»Das wäre sie aber immer noch, hättest du den Nachnamen behalten.«
»Ich weiß, ich weiß«, sprach ich schnell und knapp. »Es ist gefährlich, bla bla. Ich habe es satt! Überall ist es gefährlich! Überall soll ich aufpassen!«
In dem Moment, als ich es sagte, bereute ich es auch schon. Meine Mutter nahm mich in den Arm, als hätte sie das bemerkt.
»Es tut mir Leid«, flüsterte ich.
»Macht nichts. Ich war schlimmer«, erwiderte sie und küsste mich auf meine Locken. »Ich hab es auch satt, Olcay. Ich habe es satt, jeden Tag mit Angst aufzustehen und sich fürchterliche Gedanken zu machen, aber damit ist bald Schluss.«

Wir lösten uns von der Umarmung und ich sah sie verwirrt an. »Schluss?«
Sie nickte mit einem breiten Grinsen im Gesicht. »Dein Vater will das mit der Firma weiter geben.«
»Die Firma aufgeben!? Ich dachte, es sei eins der letzten wünsche meines Opas, dass die Firma-«
»-aufrecht bleib. Ja. Aber die Firma ist die Quelle von all dem Unheil, Olcay. Er findet es wichtiger, bei uns zu sein.«
»Wie?«, fragte ich.
»Ich erkläre es dir später«, meinte meine Mutter und gähnte. »Ich geh jetzt schlafen!«, rief sie und verließ das Zimmer. Ich sah ihr nach.

[Sicht von Alev]

Am nächsten Tag wachte ich voller Freude auf. Es war ein Donnerstag. Warum sollte ich nicht glücklich sein? Es gab schließlich tausend Gründe, warum man im Leben lachen sollte!

Ich machte mich schnell fertig und ging zum Frühstückstisch.
»Was hast du denn gestern mit Serkan abi gemacht?«, fragte Sevda mit einer zuckersüßen Stimme. Ich sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Nichts«, brachte ich schnell hervor und ging aus dem Haus.

»Hey«, murmelte ich, als ich Ece vor der Haltestelle kam.
»Hi«, erwiderte Ece und lächelte.
»Ähm, wo-«, fing ich an zu fragen, aber Ece verstand schon sofort, was ich sagen wollte und antwortete.
»Serkan abi ist krank. Er kommt heute nicht.«
»Was?«, fragte ich enttäuscht.
»Er ist nicht tot! Er hat nur 'ne leichte Grippe und da er eine Ausrede hat, nicht zur Schule zu gehen, bleibt er zu Hause.«
»Oh«, nuschelte ich.
»Alev, er ist okay«, sagte sie wieder und der Bus kam.

In der Schule passten wir so gut auf, wie es nur ging. Es klingelte und wir packten schnell unsere Sachen ein.
»Alev, könntest du kurz noch hier bleiben?«, fragte Frau Özkan. Ich nickte und Ece sah mich fragend an. Schultern zuckend legte ich meine Tasche wieder zurück auf den Platz. Als die Anderen weg waren, ging ich zum Pult, wo ich verwirrt zu Frau Özkan sah.

»Könntest du mir helfen, den Stapel Bücher zu sortieren?«, fragte sie und ich nickte. Gleich danach fing ich mit der Aufgabe an und dachte nach. Es musste doch etwas zu bedeuten haben, dass genau ich ihr helfen sollte. Gleichzeitig bekam ich das seltsame Gefühl von Vertrautheit. Es war, als ob ich Frau Özkan irgendwoher kannte. Quatsch.

»Ist im Moment alles okay?«, fragte sie, während sie einige Sachen sortierte. Woher wusste sie, dass vorher alles nicht okay war? »Ähm ja«
»Gut«, sagte sie mit ihrer klaren starken Stimme. Frau Özkans blondes gelocktes Haar, hatte sie oben hochgesteckt. Ihre blau-grünen Augen blickten runter auf die vielen Zettel. Ihre Lippen waren wie immer kirschrot gemalt.

»Sie sind mir so vertraut«, rutschte es aus mir heraus. Woher es kam, wusste ich allerdings nicht. Ich war keine Person, die so etwas einer Lehrerin einfach so gesagt hätte. Frau Özkan sah mit einem lächeln hoch. In ihren Augen war ein kurzes leuchten zu sehen. »Ich war früher oft bei dir.«
»Was?«, fragte ich. Wie konnte das denn sein?
»Du warst früher schwer krank.«
Woher wusste sie das? Kannte sie mich wirklich?

»Du hast mich immer Gülli genannt«, fuhr sie fort und etwas in meinen Erinnerungen sagte mir, dass ich sie kannte. Gülli. Es war so vertraut.
»Ich musste an manchmal an deinem Bett bleiben, bis du eingeschlafen warst. Arzu hatte eben eine Zeit lang keine Zeit...«
Arzu? Sie kannte also den Namen meiner Mutter. Okay, das war alles sehr sehr komisch.

»Du kannst ja deine Mutter nach mir fragen. Ich bin Gülay Özkan. Sie muss sich erinnern«, gab sie dann noch von sich und steckte ein Stapel von den geordneten Blättern in einen Ordner.

»Warum haben sie mich hierher bestell?«, fragte ich und wusste, dass es auf jeden Fall speziell wegen mir war. Sie kramte in ihrer Tasche und holt eine Rose heraus. Lächelnd reichte sie mir. »Du wirst sehr geliebt, Alev. Du solltest das schätzen. Die Liebe ist etwas wunderschönes.«
Ich grinste und nahm die Rose in die Hand.

»Serkan ist ein guter Junge. Ich kannte ihn nur als er noch klein war und das von einer Freundin aus. Komisch, nicht war? Sehr komisch...«, flüsterte sie und ihre Augen wurden glasig. Oh nein! Was war denn jetzt?! Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sie beruhigte sich schnell.

»Ich weiß nicht, warum er mich darum gebeten hat, es dir zu geben, aber es hat ziemlich gut gepasst. Ich wollte sowieso Mal mit die sprechen«, redete sie und nahm die Bücher, die ich sortiert hatte. Sie stellte sie auf die Fensterbank und sah raus. War ich jetzt dran mit reden oder so?

Ich sah zur Rose und dann zu Frau Özkan. »Sie kennen sich also mit der Liebe sehr gut aus, oder?«, fragte ich, ohne den Blick von der Rose zu lassen. In der Zeit kam Frau Özkan oder Gülay oder Gülli oder wie ich sie nannte, wieder zurück.
»Führen sie auch eine Beziehung?«, fragte ich und bemerkte, dass die Frage viel zu privat war. Zu privat!

Dennoch antwortete sie. Ihre Augen wurden nur plötzlich glasig. Ihr Lächeln brüchig, sodass ich es bereute, überhaupt gesprochen zu haben. »Meine erste große Liebe war de einzige. Er hat nur leider mit mir gespielt. Einfach nur mit mir gespielt«, flüsterte sie. »Und das schlimmste ist doch, dass ich ihn immer noch liebe. Nach all der Zeit. Nach all dem Verhalten. Nach all den Tatsachen.«
Sie sah zur Seite und flüsterte etwas. Es war so leise, dass ich es kaum mitbekam. Es hörte sich an, wie "Savaş".
War das den Name des Mannes?

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