Kapitel 94

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„So nah war ich echt noch nie dran!" Cailyn hielt sich die Hand aufs Herz und ich lernte sie von einer anderen Seite kennen.

„Was war denn...?", begann Liora.

„Mit meinem achtzehnten Geburtstag? Pah, das war ein Kinderspiel dagegen!"

„Und mit..."

„Unbedeutend", unterbrach sie ihre Schwester und erhob zum zehnten Mal ihr Glas um anzustoßen. Vaughn und ich saßen etwas abseits und ließen Cailyn ihre Show genießen. Lions grinste und beobachtete ihre prahlende Schwester amüsiert.

„Was würde Arya sagen, wenn sie sie jetzt sehen könnte?", fragte Vaughn leise. Ich grinste.

„Ich glaube, wenn Arya hier wäre, würde Liora gar keine Zeit dafür haben sich über ihre betrunkene Schwester lustig zu machen. Sie würden wahrscheinlich kaum das Bett verlassen." Vaughn grinste mich anzüglich an und ich lachte leise und zuckte mit den Schultern.

„Tatsachen sind eben doch nicht nur Interpretationen, sondern in diesem Fall einfach Tatsachen." Ich stimmte ihm zu.

Im Morgengrauen war der größte Teil der Armee zurück nach Arubien aufgebrochen. Wir hatten das Land recht schutzlos zurückgelassen und daher war es uns lieber die Armee dort zu haben. Auch Villain war nach Alhambrien aufgebrochen, bereits mitten in der Nacht, und hatte uns nur schriftlich eine Nachricht zukommen lassen. Uns waren fünftausend Soldaten und Soldatinnen geblieben und das sollte ausreichen, im Anbetracht des Umstands, dass Alejandra über keine Armee mehr verfügte.

„Ich wusste nicht, dass Cailyn so protzig sein kann." Vaughn lachte und folgte meinem Blick zu seiner Schwester, die sich gerade ein Tablett mit Mondschatten bringen ließ, nur um dann eines nach dem anderen allein und mit einem genüsslichen Lächeln zu leeren. Coilin stieß sie gerade in die Seite und schnappte ihr das letzte Glas aus der Hand, um es sich selbst zu genehmigen. Liora und Coilin brachen bei Cailyns entsetztem Gesichtsausdruck augenblicklich in lautes Gelächter aus.

„Na, stiehlt ihr jetzt doch noch jemand die Show?", fragte ich als Rouven und Oraziel sich von den Hockern an der Theke erhoben. Da Nyrea, Alejandras Hauptstadt, auf der anderen Seite des Landes lag, haben wir uns in der Küstenstadt Bruix niedergelassen. Diese war zum größten Teil verlassen gewesen und mit denen, die noch da waren, haben wir unsere Vorräte geteilt,

„Oraziel auf jeden Fall nicht. Bei Rouven dagegen kann man nie sicher sein, was er gerade ausheckt."

„Der ist ja auch für jeden Blödsinn zu haben."

„Ganz genau." Vaughn grinste und zog mich näher zu sich. Ich schmiegte mich an seine Schulter. „Rouven ist mit mir im Schloss aufgewachsen. Er hatte keine Familie und mein Vater hat ihn bei uns aufgenommen. Ich habe früher gedacht, dass es sein unehelicher Sohn ist, aber inzwischen glaube ich einfach, dass es ihm so mehr Spaß gemacht ha, weil er uns gegeneinander ausspielen konnte." Er schluckte und ich spürte seinen Schmerz über unsere Verbindung. Ich schmiegte mich enger an ihn und küsste ihn auf die Wange.

„Ich hoffe, dass er bald auch eine Partnerin oder einen Partner findet. Er hat es verdient, glücklich zu sein."

„Das stimmt. Wie kommt es eigentlich, dass du dem Thema so offen gegenüberstehst?", frage ich neugierig.

„Ganz einfach. Ich weiß, was es bedeutet, wenn einem durch Verbote vorgeschrieben wird, wie man zu leben hat, wie man zu sein hat. Wenn man in diesen Weisen eingeschränkt ist, spielt es keine Rolle, ob diese von der Gesellschaft oder aus tatsächlichen Gitterstäben bestehen. Ich werde niemals jemanden aufgrund seiner Vorlieben, Identität oder Partnerwahl verurteilen oder bedrängen."

„Nicht viele haben begriffen, dass das kein persönlicher Affront gegen sie ist, wenn jemand statt Männern Frauen liebt oder andersherum."

„Ganz genau. Aber wir haben kein Recht. Weder dazu unsere Meinung dazu zu äußern noch es zu verbieten."

„Deswegen hast du die Sklaverei auch abgeschafft?", frage ich und genieße die wohlige Wärme, die von Vaughn und seinen Worten ausgeht und mich einhüllt.

„Ganz genau. Niemand hat etwas derartiges verdient. Da spielt es keine Rolle, wer die Eltern sind oder die Hautfarbe oder die magische Begabung. Das ist alles unwichtig im Anbetracht dessen, was ihnen Jahrtausende lang angetan wurde."

„Du weißt, dass es in Alejandra noch ganz anders aussieht? Ich gebe dir recht, aber für mich wird es ganz und gar nicht einfach meine Prinzipien durchzusetzen. Und ich würde mich sehr freuen, Vaughn, wenn du mir dabei hilst."

Er strahlt mich an, so breit, wie ich es noch nie gesehen habe. „Du bist meine Seelengefährtin. Du kriegst absolut alles von mir."

„Gut zu wissen", antwortete ich und verlor mich einen Augenblick in der Unendlichkeit seiner Augen. Ich räusperte mich. „Wenn das so ist. Ich habe genau Vorstellungen von meinem Schlafgemacht. Soll ich sie dir auflisten?"

„Tu das, bitte." Er näherte sich meinem Hals. Meine Ablenkung schien nicht funktioniert zu haben. Mein Puls wurde unruhig. Ich räusperte mich. „Ich denke an vergissmeinnicht mitternachtsblaue und Vorhänge."

„Interessant", murmelte er und umspielte mit seiner Zungenspitze mein Schlüsselbein.

„Ein schwarzes Bett mit ähh." Mist, ich war außer Atem. Meine Finger krallten sich tiefer in den Stoff seines Hemdes.

„Ja?", fragte er unschuldig und zischte gleich darauf, weil ich mein Schild senkte, um auch ihn etwas aus der Fassung zu bringen.

„Einer Decke aus Glas, die den Blick auf den Himmel freigibt."

„Das gefällt mir. Sehr." Vaughns Stimme war rau. Sein Atem auf meiner Haut veränderte den Takt, in dem unsere Herzen schlugen.

„Was würdest du noch wollen, Belle?" Seine Zähne streiften über meine Haut. Ich fluchte innerlich.

„Ein... Ein Bad wäre schön. Sch... Schwarzes Gestein." Plötzlich bemerkte ich, wie ruhig es um uns herum war und öffnete die Augen.

„Ich habe gewonnen", triumphierte Cailyn und streckte Coilin ihre offene Hand entgegen. Dieser gab ihr mit einem missmutigen Brummen drei Goldmünzen.

„Ihr habt auf uns gewettet?" Vaughn klang nicht besonders begeistert.

Cailyn zuckte mit den Schultern. „Wir sind in einer Schenke. Wenn ihr nicht wollt, dass wir durch eure strahlende Aura auf euch aufmerksam werden, solltet ihr euch ein privateres Plätzchen suchen."

Vaughn taxierte seine Schwester. „Du hast Glück, Cailyn, dass ich besseres zu tun habe als auf deine offensichtliche Provokation einzugehen." Sie grinste aufmüpfig und hatte in dem Moment so viel Ähnlichkeit mit Keno, dass ich kaum glauben konnte, dass mir das vorher noch nie aufgefallen war. Gleichzeitig stellte ich fest, dass ich ihn vermisste. Sehr.

„Ich auch, Belle." Seine Stimme in meinem Kopf lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Er wiederum taxierte noch immer seine kleine Schwester und die grinste noch immer. Dann erhob er sich, nahm meine Hand und wir verließen die Schenke, unter tosendem Applaus und anzüglichen Pfiffen.

„Mich wundert es etwas, dass dir das gar nicht unangenehm ist, Belle." Vaughn hatte wohl mein Lächeln bemerkt. Ich blieb stehen, als die Nachtluft meine Haut traf und hob meinen Blick. Die Nacht war wolkenverhangen, aber der Mond schenkte sein zuversichtliches, wärmendes Licht zu uns.

Ich sah Vaughn an und trat direkt in seine Arme. „Vaughn." Ich legte eine Hand an seine Wange. „Du bist mein Seelengefährte." Ich sagte es, als würde es alles erklären, weil es genauso war.

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Drei Kapitel noch bis das Buch zu Ende ist und eins lade ich heute noch hoch 🧡
Die anderen beiden dann morgen 💙

The Lost PrincessWhere stories live. Discover now