Kapitel 70

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Er saß direkt hinter mir, sodass ich seinen gesamten Körper spürte. Seine Beine berührten meine, seine Brust lag an meinem Rücken. Für diesen Ausflug nahm ich mir vor ehrlich zu sein, zu sagen, was ich wollte, wie ich es wollte. Zu machen, was ich wollte, ohne darüber nachzudenken. Soweit alles wie immer. Der einzige Unterschied war, dass ich ohne Plan, ohne Strategie und ohne die Folgen zu bedenken einfach nur leben wollte.

Dem Himmel so nah zu sein, wie nie zuvor, war magisch. Ähnlich wie auf Les Rücken war die Freiheit zum Greifen nah. Alles wurde unbedeutend. Wir flogen von Calea Richtung Norden, über die Steppe und das Sumpfmoor. Das Meer glitzerte am Horizont und schien fließend in das Blau des Himmel überzugehen. Irgendwo hinter dem tückischem Meer befand sich Alejandrien. Mein Land. Südlich davon Villains Land, Alhambrien und darunter Andalesien. Sehnsucht und ein merkwürdiger Druck breiteten sich in meinem Inneren aus.

„Bist du in Gefahr, Belle?" Vaughns Brust vibrierte beim Sprechen und im Augenwinkel sah ich, wie nah er mir war.

„Worauf ist das bezogen?", fragte ich spöttisch. Er kannte die generelle Antwort.

„Ich meine ob es noch jemanden gibt, der dich bedroht, von dem ich nichts weiß. Der Angriff im Schloss des Nordens zum Beispiel. Aurin hat den Täter noch immer nicht aufgespürt."

Ich seufzte und streichelte abwesend über Azras Federn. Er hatte ein besorgniserregend gutes Gespür für meine Emotionen. Darüber, wenn ich nicht bereit war, etwas preiszugeben.

„Einverstanden, anderes Thema. Was hast du mit deinen Gefangenen vor?"

„Es sind deine Gefangenen", widerspreche ich und spüre sein Stirn runzeln,'mehr als das ich es sehe.

„Ich habe sie für dich gefangen. Durch deine Aufzeichnungen. Es sind deine." Er klang bestimmt und ich merkte, dass es sinnlos war mit ihm zu diskutieren.

„Vermutlich gibt es noch immer Dinge, für die sie nützlich wären", überlegte ich laut. „Jedenfalls bei einigen von ihnen."

„Ich stimme dir zu." Seine Arme liegen plötzlich um meine Taille, als wir eine Kurve fliegen und an Höhe verlieren. „Sie kann etwas stürmisch bei der Landung sein, also halt dich lieber gut fest."

Wie sehr er untertrieben hatte, merkte ich nur wenige Augenblicke später, als Azra sich mit einem lauten Schrei senkrecht in die Tiefe stürzte. Ich presste meine Lippen zusammen, damit ich bloß nicht in die Versuchung kam zu schreien. Ich spürte so schon, wie amüsiert Vaughn von meiner Anspannung war und zwang mich souverän zu bleiben.

Als wir am Boden aufsetzten, taten wir dies, entgegen meiner Erwartung, mit einer sanften Eleganz,  die mich daran erinnerte, wie majestätisch Raubvögel wirkten, wenn man sie beobachtete. 

Vaughn lachte und bevor er mich herunter heben konnte, sprang ich von Azras Rücken. 

„Rouven konnte nach seinem ersten Flug eine ganze Weile nicht mehr geradeaus gehen."

Mit einem vielsagenden Blick, marschierte ich los.

„Wie mir scheint, verkraftest du es deutlich besser." Er hatte mich eingeholt und grinste vergnügt vor sich hin. „Was mich nicht wundert", fügte er hinzu und als ich ihn kurz ansah, bildete sich ein Lächeln auf meinen Lippen, das nicht den Eindruck machte, als würde es sobald mein Gesicht verlassen.

„Was ist das hier?", fragte ich leise. Der schmale, mit Nadeln und Kiefernzapfen übersäte, Pfad schlängelte sich direkt an einem Flussufer entlang. Das schimmernde Spiegelbild der majestätischen Bäume war Teil des Wassers, genauso wie unzählige Ringe, die das Wasser kräuselten. Hohe Bäume bildeten ein natürliches Blätterdach. Und dennoch leuchtete alles in einem strahlenden Grün. Das Rauschen der Bäume vereinte sich mit dem des Wassers zu einem natürlichen Gesang des Waldes. 

The Lost PrincessWhere stories live. Discover now