Kapitel 32

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Als es später an der Tür klopfte, war ich nicht im Mindesten überrascht. Auch nicht von auffordernden, ungeduldigen Schläge gegen das schwere Holz.

Ich ließ mir Zeit. Mit dem Aufstehen. Dem stehen bleiben und dem ein und ausatmen. Mit dem Gang zur Tür. Dem Öffnen. Doch zu meiner Erleichterung stand da nicht die Person, dessen Erscheinen ich befürchtet hatte.

Die kleine Frau in gebeugter Haltung und einem wachen, aufmerksamen Blick drängte sich an mir vorbei, sobald die Tür weit genug aufgeschwungen war.

Sie wirbelte durchs Zimmer, schlug die Decke auf, auf der ich eben noch gelegen hatte und öffnete die Fenster. Ich stand immer noch etwas überfordert an der Tür, als der Wasserhahn aufgedreht wurde und die Frau begann meine Schränke zu durchwühlen. Keinen Schimmer, was sie erhoffte zu finden, doch außer meinen wenigen Kleidern, bei dessen Anblick sie ein Schnauben ausstieß, blieb ihre Suche erfolglos.

Ein Teil in mir, der den ich mit viel Kraft zu verdrängen versuchte, wollte ausrasten. Er wollte wüten über ihre Respektlosigkeit, über ihren Mangel an höflichen Umgangsformen gegenüber einem Mitglied der königlichen Familie Person. Er wollte demonstrieren, dass sie Angst haben sollte und dass sie diese Unverschämtheit nicht noch einmal wagen sollte.

Doch der andere Teil, der den sie ununterbrochen versuchte hervor zu holen, wollte nichts davon. Er wollte sie nicht bestrafen. Er wollte überhaupt nicht reagieren. Er wollte es einfach geschehen lassen. Denn es war ihm egal.

Bei der Erkenntnis zuckte sie nicht einmal zusammen. Wie hätte ich mich verhalten, wenn ich unter normalen Bedingungen aufgewachsen wäre? Wie würde mein Leben dann aussehen? Wäre ich als Braut hier und nicht als Gefangene?

Mit bedächtigen Bewegungen schließe ich die Tür und ließ mich von der Fremden in die kupferne Badewanne scheuchen. Vermutlich war sie es, die mir jeden Morgen und jeden Abend das Essen brachte und das Bett machte, wenn ich in der Bibliothek war.

Ich ließ es einfach mit mir machen. Ließ zu, dass sie mir die Haare wusch. Mich anschließend auf den Hocker an der Frisierkommode setzte und begann in meinem Gesicht herum zu pinseln. Ich hielt die Augen geschlossen, wickelte mich tiefer in das aschgraue Handtuch und wünschte mir, dass heute ein Tag wie jeder andere wäre. Ich mich in das Bett lege noch bevor der Mond am Himmel scheint und die Augen schließen kann. Mit dem Jungen lesen und sein Wesen hinter den Ohren kraulen. Was würde ich dafür geben?

Die Zeit vergeht zu schnell und noch lange bevor ich auch nur den Grundstein einer Idee, wie ich diesen Abend überstehen kann, gefunden hatte, führte die Fremde mich vor den Spiegel. Ich verharrte, mehr erstaunt als erschrocken. Das schwarze Kleid, dass ich trug war vor Allem eins: Feminin. Weiblich.

Es passte zu allem, was ich die letzten Jahre getragen hatte. Es war tief ausgeschnitten und besaß Applikationen aus transparenter Spitze. Es überließ keine Fantasie mehr über meine Kurven, meinen Körper. Alter Gewohnheit war es geschuldet, dass ich mein Kinn anhob und meine Miene neutral wurde. Ich strich bedächtig über das Kleid und verschränke die Hände ineinander, als ich merkte, dass sie zitterten.

Sobald ich meinem Spiegelbild in die Augen schaute, überfiel mich Ekel. So unvorbereitet und unerwartet, dass ich ins Schwanken geriet. Die rosige Farbe meines Gesichts wich einem Ton, der mit neugefallenem Schnee zu vergleichen war. Zwei Arme greifen nach mir, während ich das Gleichgewicht zu verlieren drohte und ziehen mich zurück auf den Schemel. Die Fremde schaut mich mit einer Mischung aus Neugier und Verständnis abwartend an. Gleichzeitig zeugt ihr Ausdruck von unendlicher Geduld. Das ermöglichte es mir, etwas leichter zu atmen.

„Ihr möchtet ein anderes Kleid?" Ihre Stimme klang überraschend jung. Und ich nickte ohne zu zögern. Ihr Blick wanderte über den Ausschnitt, die viele freie Haut und ich sah ihr an, dass sie verstand, was mich dazu bewog ein anderer Kleid anziehen zu wollen.

Das dachte sie zumindest. Er hatte damit etwas bezweckt, mich mit dieser Art Kleidung auszustatten. Mir das zu nehmen, was mir so lange geblieben war. Meine letzte Freiheit. Die letzte Präsenz meines Willens. Er deutete meine Verfügbarkeit an, stellte meine Weiblichkeit zur Schau. Bei jeder Gelegenheit, bei dem sie ihm von Nutzen sein konnte. Oder einfach nur aus Boshaftigkeit. Um mich klein zu kriegen und dann um mich klein zu halten.

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Was lest ihr gerade außerhalb von Wattpad?♥

Ich fange nachher mit Back To Us von Morgane Moncomble an und bin ziemlich gespannt, weil ich den ersten Teil auch schon sehr gerne gelesen habe. Frisch beendet habe ich Ein Herz so dunkel und schön von Brigid Kemmerer, wofür ich eine absolute Leseempfehlung aussprechen kann!

The Lost PrincessOnde as histórias ganham vida. Descobre agora