Kapitel 87

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Wir flogen hoch über dem offenen Meer und Arubiens Küste war nicht mehr zu sehen. Meine pochenden Kopfschmerzen und diese innere Unruhe waren zurückgekehrt und obwohl die Drachen so schnell flogen, dass wir Alejandra noch vor Sonnenuntergang erreichen würden, wurden sie stärker, je näher wir kamen.

Ich sah sie vor mir. Die Armeen. Das Wappen des Nordens. Die riesige Tatze des sagenumwobenen Schneewesens vor der Silhouette eines Eisberges. Arubiens Wappen. Den rotgrünen, riesigen Drachen. Und das Wappen Alejandras. Ein erhobenes Schwert, bereit zuzustechen, ein Leben zu beenden.

Ich fragte mich, wie Vaughn reagiert hatte, als er bemerkte, dass ich verschwunden war. Glaubte er, dass ich sie zurückgelassen hatte? Ihn verlassen hatte? Rouven würde ihm gut zu reden, Oraziel schweigend in der Ecke stehen und Vaughn seinen Wutausbruch ausleben lassen. Ich versuchte den Gedanken abzuschütteln. Aber er kehrte immer wieder zurück. Ob er jemals wieder etwas anderes als Hass für mich empfinden wird, nachdem ich ihn derart im Stich gelassen und betrogen hatte?

Die Illusion der Bisswunde hatte ich längst geschlossen, aber den Ausdruck auf seinem Gesicht werde ich niemals vergessen. Einen Moment wurde mir schwarz vor Augen, dann konzentrierte ich mich auf die kleine Flamme, die um mein Handgelenk züngelte. Es musste sich um eine Art Treuesiegel halten. Mein Blick glitt weiter nach oben. Die Wunde an meinem Oberarm war längst verheilt, doch die Blutspuren auf meiner Haut verkrustet und fest getrocknet.

Ein Ruck ging durch meinen Körper und als ich den Blick hob, sah ich Alejandras Küste vor mir.

Der Schmerz in meinem Kopf wurde übermächtig. Zweifel stiegen in mir auf, doch dann erinnerte ich mich an etwas, das Vaughn gesagt hatte. Die wahre Gefahr der Anderswelt war die Dunkelheit, die sie in unsere Köpfe säte. Die negativen Emotionen, die sich vervielfachten und alles Gute überschatteten.

Ich dachte an die Nacht auf dem Dach mit Coilin, den Tag im Tausend Wasser Tal, Vaughns Berührungen, Aryas Lachen, meine Ausritte mit Les, meinen pflanzenübersäten Innenhof, Vaughns Bett, Vaughns Lippen. Keno, Runa, Liora, Caylin, Mina, Osmium. Ich habe mich daran erinnert, was ich zu verlieren hatte, wofür es sich zu kämpfen lohnte und ich würde es nicht mehr vergessen.

Meine Magie brodelte aufgeregt, als ich meine mentalen und physischen Schutzzauber um einiges verstärkte, meine Waffen prüfte und meine Haare zu einem Zopf flocht. Immer wieder wanderte mein Blick ungläubig über die Drachen, die so souverän flogen, dass man niemals auf die Idee kommen würde, dass sie mehrere Jahrhunderte in einem endlosen Schlaf als Berg getarnt verbracht hatten.

Obsidian flog vorne, dicht hinter ihm sein kleines Ebenbild, rechts und links neben diesen die beiden grünen Drachen und der rote bildete die Schlusshut. Er war etwas kleiner als die beiden grünen, doch ich hatte das Gefühl, dass er keineswegs schwächer war.

Alejandras Küste nahm langsam Gestalt an. Ich konnte die ersten Bergspitzen des lebendigen Gebirges erkennen, das fast vollständig über Alhambriens Grenzen gewandert war. Und wenige Augenblicke später war unsere Flotte in Sichtweite. Sie waren bereits an Land gegangen. Ich lehnte mich weiter vor und Obsidian verstand und wurde noch schneller. Der scharfe Wind trieb mir Tränen in die Augen, doch ich hielt sie unbeirrt weiter offen.

Ich konnte einzelne Fahnen ausmachen und dann sah ich sie. Die Armeen erstreckten sich nahezu endlos. Sie ergossen sich wie flüssiges Pech über die Landschaft. Der dunkle König hatte seine Armee breit aufgestellt, so breit, dass er Vaughns Armee beinahe einkesselte. Dunkle Trommellaute dröhnten bis zu uns hinauf. Obwohl ich gesehen hatte, in welchem Zustand sich mein Land befand, erschrak es mich dennoch. Die Bäume waren verdorrt, die Flüsse ausgetrocknet und ehemals grüne Wiesen nur noch eine verstaubte Wüstenlandschaft.

Ich suchte und ich fand ihn. Etwas abseits auf einem Hügel, der höher gelegt war als das Schlachtfeld und durch einen senkrechten Abhang kaum zu erreichen war. befanden sich ein paar besonders große Zelte. Pechschwarz und umringt mit Fahnen, die das Wappen Alejandras trugen. Feuerschalen wurden entzündet und dann sah ich ihn. Eines dieser Zelte besaß keine Wände, sondern nur ein Dach. Dort hatte er seinen Thron postiert. Mit der besten Sicht auf das schon bald im Blut versinkende Schlachtfeld.

Er trug die königliche Krone und einen Bärenpelz über seiner Rüstung. Die Runen hatten sich inzwischen selbst auf seinem Gesicht ausgebreitet. Gerade brachte ihm eine fast vollständig unbekleidete Fae einen goldenen Pokal. Er warf den Kopf in den Nacken, zeigte auf sie und lachte. Mir wurde eiskalt. Er deutete auf sein Zelt und zwei Soldaten brachten sie darein. Dann kam die nächste Fae. Sie war sehr jung und sein Grinsen wurde diabolisch, als er sie ebenfalls ins Zelt bringen ließ.

Mir wurde schlecht. Allein schon der Bärenpelz war eine Verhöhnung, eine Drohung. Doch er würde gar nicht erst in die Nähe von Vaughns Armee kommen. Ich würde das verhindern. Dann hörte ich wie Unruhe in Vaughns Reihen ausbrach. Ein Trupp Späher wurde ausgesendet.

„Danke, Obsidian." Ich legte meine Hand auf eine der onyxfarbenen Schuppen. „Ihr landet am besten hinter Vaughns Armee. Ihr müsst nur den Boden berühren, das Land wird euch erkennen." Augenblicklich drehten die beiden grünen und der kleine schwarze bei und steuerten den Boden zwischen der Armee und dem Meer an.

Ich erhob mich und trat in die Luft. Ich hatte es in Calea geübt und tatsächlich funktionierte es. Ich stand. „Landet erst nach mir", bat ich. Dann verstärkte ich ein letztes Mal meine Schutzzauber und schwebte nach unten.

Erst kurz bevor ich landete, zog ich Osmiums Schwert und löste den Verhüllungszauber, mit dem ich uns getarnt hatte. Sobald ich den Boden berührte, durchlief mich eine warme Welle. Sie hinterließ ein tiefes, hallendes Grollen und ich erkannte es, als das, was es war. Die Magie, die in Alejandra noch übrig war, hieß mich willkommen. Mit einem Mal wurde mir klar, wieso sie mir derart vertraut war, weil ich sie bereits gespürt hatte. Im Kampf gegen den dunklen König, als ich das Bewusstsein verloren hatten, war sie es gewesen, die mich gerettet hat.

„Vater, willst du mich denn nicht gebührend empfangen?", rief ich und nutzte seinen alten Trick, um meine Stimme mit den Winden auch in die hinterste Ecke des Lagers zu schicken.

Ich grinste vergnügt, als ich die Überraschung auf seinem Gesicht sah. Soldaten kamen angerannt und schenkten den fliehenden Fae keine Beachtung. Sie kamen näher, über drei Dutzend, zogen ihre Schwerter und brüllten ohrenbetäubend laut, doch ich erhob nicht einmal mein Schwert. Ich hatte im Gegensatz zu den anderen nämlich einen Blick nach oben geworfen und die beiden riesigen Schatten gesehen, die sich in unglaublicher Geschwindigkeit dem Boden näherten.

Die Drachen schlugen auf dem Boden auf und machten alles in ihrem nahen Umfeld dem Erdboden gleich. Obsidian und der rote Drache waren nördlich und südlich von uns gelandet. Wie auf Kommando begannen sie zu brüllen und ich hatte Mühe nicht vor Begeisterung in die Hände zu klatschten, als sie Feuer spuckten und einen lodernden Flammenkreis um das Lager meines Vaters legten.

Der Boden begann zu pulsieren und die Magie des Landes, die der dunkle König über Jahre hinweg zu Grunde gerichtet hatte, erwachte zu neuem Leben. Die schwarzen Adern wurden von einer Welle goldener Magie überschwemmt, die sich in rasender Geschwindigkeit über das gesamte Land ausbreitete.

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The Lost PrincessWhere stories live. Discover now