Kapitel 69

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„Oraziel, sie ist achtzehn!" 

„Sie ist die Prinzessin des Landes, dass gerade dabei ist die ganze Welt zu vernichten. Also kannst du vergessen, dass ich Rücksicht auf ihr Alter oder ihre Gemütslage nehme, Vaughn! Im Gegensatz zu dir kann ich nämlich noch klar sehen."

„Jungs, fahrt wieder runter." Liora schaltete sich ein und ihre Stimme klang ungewohnt energisch. „Hier herum zu zicken hilft uns auch nicht weiter."

Neben mir kicherte jemand und noch bevor ich erschrocken zusammenfahren konnte, gab Keno sich mir zu erkennen. „Hey du Raufbold, wo hast du dich versteckt?", flüsterte ich leise und sah mich nach seinem treuen Begleiter um. Kenos Augen funkelten schelmisch, als er in einer unschuldigen Geste mit den Schultern zuckte. Okkus massige Gestalt lugte hinter einer Ecke hervor.

„Ich habe etwas gefunden, was dir vielleicht hilft." Keno reichte mir zwei Schriftrollen, die er unter seinem Umhang hervor holte. „Und ich wollte dir noch sagen, dass du bei Villain vorsichtig sein musst. Selbst wenn du über meinen Bruder etwas herausfindest, was dir nicht gefällt, handle nicht voreilig. Versprichst du mir das?" Der kleine Junge schaute mich aus seinen dunkelgrünen Augen abwartend an. 

„Wenn du mir auch etwas versprichst", antwortete ich. „Wenn du in Schwierigkeiten bist oder Hilfe brauchst, komm zu mir. Oder deinem Bruder." 

Keno hob feierlich die Hand. „Ich verspreche es." Er grinste und seine Grübchen kamen zum Vorschein. „Jetzt du."

„Na gut. Ich verspreche es auch." 

Keno nickte zufrieden und huschte davon. Kurz vor der nächsten Ecke hielt er inne. „Ach und genieß deinen Ausflug." Ich streckte ihm die Zunge raus und behielt sein Kichern im Ohr, auch nachdem er längst verschwunden war. Dann schlich auch ich mich auf leisen Sohlen davon.

„Das ist nicht dein Ernst", rief ich erschrocken aus. Vaughn grinste nur und schaute interessiert dabei zu, wie sich das dunkelbraune Raubtier annäherte. Es sah aus wie ein Bär, aber ich wusste, dass normale Bären weder dieselbe Größe noch dieselben silbernen funkelnden Klauen besaßen. Sein Maul präsentierte eine erschreckend hohe Anzahl ungewöhnlich scharfer Zähne. Mit anmutigen Schritten kam es näher und schnüffelte.

Kaum zu fassen, dass ich mich bereits auf seinem Rücken befunden hatte. Es kam mir vor wie ein anderes Leben, wenn ich an diesen Tag zurückdachte. 

„Der alles entscheidende Moment", wisperte Vaughn und ignorierte den bitterbösen Blick, den ich ihm zu warf. 

Mir stockte der Atem, als das Tier den Kopf senkte. Obwohl er auf allen Vieren stand, überragte er mich bereits. Nicht auszudenken, was er für eine Größe annehmen würde, wenn er sich aufrichtete. Seine Augen schimmerten in einem fast warmen goldgelb und dann stand meine Welt plötzlich Kopf. Ich hörte Vaughn erschrocken meinen Namen rufen und dann hörte ich nur noch das Rauschen eines Luftzugs.

Der Bär hatte mich gepackt und sich mit einem Sprung in die hinterste Ecke seiner Höhle verzogen. Komischerweise fühlte ich keine Angst. Im Gegenteil, ein völlig irrationaler Teil von mir wollte in ein hysterisches Lachen ausbrechen.

„Verdikal", brüllte Vaughn. Der Bär legte mich behutsam ab. Seine Zähne hatten nicht einmal Abdrücke auf meiner Haut hinterlassen. Ähnlich wie bei Osmium erreichte mich eine amüsierte Schwingung und ich entspannte mich augenblicklich.

Ich hörte Vaughn lautstark mit jemanden diskutieren und einen Augenblick später bogen er und Rouven um die Ecke. Ich tat unbeteiligt und lehnte mich gegen den Bären, der sich an die Steinwand gesetzt hatte und eine absolute Unschuldsmiene zur Schau trug. Lange konnte ich mein Grinsen jedoch nicht verbergen. Dafür schauten die beiden kriegerischen Fae einfach zu überrumpelt aus der Wäsche.

„Sag mal, Großer. Du hast doch schon ein Weibchen. Du brauchst nicht noch eins." Rouven kam langsam näher und sah den Bären kopfschüttelnd an.

Verdikal brummte etwas und pustete mir dann ins Gesicht. In einer, wie ich zugeben musste, etwas unüberlegten Bewegung, klopfte ich ihm auf die Schulter, Rouven und Vaugh verharrten wie erstarrt und auch ich ließ den Bär nicht aus den Augen. Dieser öffnete sein riesiges Maul und brüllte in die Richtung der beiden Fae. 

„Das ist nicht gut", murmelte Rouven.

„Er will sie vor uns beschützen?" Vaughns verwunderter Ton brachte meine Mundwinkel zum Zucken. Ich hatte keine Angst vor dem Bär und als ich mich aufrichtete, hinderte er mich nicht daran. Er lehnte sich wieder in eine entspannte Sitzposition zurück und beobachtete mich aufmerksam. 

„Ich komme morgen wieder, ja?" Ich sah ihn an und schüttelte grinsend den Kopf, Behutsam entfernte ich mich und ging an Rouven und Vaughn vorbei, die mich mit großen Augen beobachteten.

„Komm ihr?", fragte ich, als ich beim Ausgang der Höhle angekommen war. Sprachlos trat Vaughn an mir vorbei ins Freie und Rouven zwinkerte mir kurz zu.

„Deine Verbindung zu Tieren ist wirklich außergewöhnlich. Du scheinst sie anzuziehen." Rouven war neben mir stehen geblieben. 

„Ich konnte schon immer gut mit ihnen."

„Rouven, verschwinde jetzt", genervt verscheuchte Vaughn seinen Freund. Dieser quittierte Vaughns Ton nur mit einem Grinsen und einer gehobenen Augenbraue.

„So, auf die Gefahr hin, weitere Tiere zu treffen, die ihre Besitzansprüche auf dich geltend machen, stelle ich dir jetzt Azra vor." Vaughn wandte sich dem weiten Himmel und dem Abgrund zu, an dessen Klippe wir standen. Ein durchdringender, scharfer Pfiff durchschnitt die Luft und nur wenige Wimpernschläge später, zerteilten mächtige Flügel den Wind. Staunend beobachtete ich den Raubvogel, als er anmutig neben uns auf dem Felsvorspung landete.

Mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Besorgnis musterte ich die riesengroßen Krallen, sein geflecktes Federkleid, die geweiteten, schmalen Pupillen und den gefährlichen Schnabel.

„Also die Bären kannte ich ja schon als Teil eurer Armee, aber diese..." Mir fehlte die passende Beschreibung, weil Raubvögel normalerweise maximal die Größe eines Zwergpengus erreichten. Dieser hier jedoch der Größe halber eher an einen kleinen Flugdrachen, als an einen Vogel erinnerte. Einen der keine Mäuse, sondern Rehe jagte.

„Und was nun?", fragte ich Vaughn und nahm dabei möglichst unauffällig eine Position ein, bei der er zwischen dem Raubtier und mir stand. Lieber er als ich. 

„Sie bringt uns zu unserem Ausflugsziel." Er grinste und das Blitzen in seinen Augen glich einer einzigen Herausforderung.

Innerlich ließ ich verzweifelt den Kopf hängen. Raubvögel waren mir noch nie wirklich geheuer. Fliegen sowieso nicht und eine Kombination aus beidem war einfach so unwirklich, dass ich mir bisher nie Gedanken darum gemacht hatte. 

„Habe ich etwas gefunden, was dich zögern lässt?" Ich hatte nicht gemerkt, dass er mir näher gekommen war. Direkt vor mir stand und seine Aufmerksamkeit ausschließlich mir galt.

„Niemals", antwortete ich mit einer Stimme, die mir selbst fast fremd war. Leise und rau, aber dennoch klar. Tiefer als sonst, aber dennoch unverkennbar meine.

Sein Blick verlor meinen keinen einzigen Moment lang, als er mich auf den Rücken des Vogels hob. Sobald meine Augen einen Wimpernschlag lang zuklappten, strich sein raues Lachen um mich, sanft wie die Schwingen des Windes.

The Lost PrincessWhere stories live. Discover now