Kapitel 92

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Obwohl es in Strömen geregnet hatte, war der Boden nicht mehr nass. Vermutlich hatte die Erde die wohltuende Nässe so schnell eingesogen, wie sie konnte. Als ich endlich genug Mut gefunden hatte, meinen Blick vom Boden zu lösen und mich zu Vaughn und den anderen umzudrehen, hatte ich noch immer nicht verstanden, was da gerade passiert war.

„Belle...", begann Vaughn.

„Du bist... Du hast..." Coilin sah mich aus seinen riesigen eisblauen Augen an.

Mina stolperte auf mich zu und schloss mich fest in die Augen. „Er will sagen, du hast uns gerettet, Belle. Danke, das war unglaublich!"

Coilin hatte sich als nächstes gefangen und schloss mich in die Arme, noch bevor Mina sich von mir gelöst hatte. „Belle, du bist der Wahnsinn! Wie du sie alle plattgemacht hast, wortwörtlich, und diese Flammen in deinen Augen, diese Krone, die Drachen, diese Klinge! Das sind die Ereignisse aus denen Märchen gemacht werden", schwärmte er weiter und schien schon lange vergessen zu haben, dass er vor wenigen Augenblicken noch in Lebensgefahr geschwebt hatte.

Rouven und Oraziel waren bei Liora, die sich gerade wieder aufrichtete. „Was ist passiert?" Sie blinzelte. Erst jetzt ging die Sonne vollständig unter, als hätte selbst sie dieses Spektakel nicht verpassen wollen.

„Arabella ist passiert", antwortete Oraziel wieder.

„Ich kann nicht glauben, dass wir versucht haben, sie zu überlisten, Vaughn. Ich meine, hast du das gesehen? Wir sollten uns lieber erneut entschuldigen." Ein übermütiges Grinsen lag auf seinen Lippen, während er die Schemen der Drachen beobachtete, die wieder über uns kreisten.

„Wir haben gesiegt!" Coilin entließ mich aus seiner Umarmung, nur um mich hochzuheben und durch die Luft zu wirbeln. „Wir haben gesiegt", brüllte er.

Rouven stimmte mit ein. Ich konnte ihr Hochgefühl nicht teilen. In einem Krieg gewinnt niemand. Coilin ließ mich runter, als er meinen Gesichtsausdruck sah. Ich machte einen Schritt auf Vaughn zu, der die Szenerie schweigend beobachtet hatte. Er kam auf mich zu und auch ich wurde schneller. Wir prallten gegeneinander und ich schlang meine Arme genauso fest um ihn, wie er um mich. Ich atmete seinen Geruch ein und erlaubte mir endlich durchzuatmen.

„Verdammt, Belle", wisperte er. Seine Finger zitterten als er sie an meine Wange legte. Ich kam ihm entgegen, stellte mich auf die Zehenspitzen und lehnte mich gegen seinen Arm, den er um mich gelegt hatte. Ich konnte nicht anders, egal, was gewesen war. Ich erlaubte mir das hier, weil ich es so sehr wollte.

Vaughn küsste mich und ich küsste ihn. Vorsichtig tasteten seine Lippen über meine und augenblicklich war die Hitze zurück. Ich vergrub meine Hände in seinen Haaren, zog ihn näher, küsste ihn tiefer. Er stöhnte leise, dann wurde sein Kuss gieriger. Der Griff um meine Taille fester.

Ja, schrie mein Körper, mein Geist, selbst meine Magie hatte sich zufrieden wieder zu einer goldenen Kugel geformt. Ich spürte den Punkt genau, wo der Kuss von leidenschaftlich in verzweifelt umschlug. Mein Herz pochte noch genauso schnell und mein Atem ging abgehackt, aber ich zog mich zurück. Erst jetzt traten mir Tränen in die Augen. Ich küsste ihn noch einmal, versuchte das Gefühl zurückzuholen und einen anderen Gedanke zu verdrängen, aber wenig überraschend, funktionierte das nicht.

Ich schob ihn von mir. Tränen liefen mir über die Wange, als ich mich von ihm abwandte.

„Wir haben ein paar hundert Verletzte und ein Dutzend Tote, aber die meisten haben es gut überstanden." Rouven hatte anscheinend mit jemandem auf den Schiffen kommuniziert. Erleichtertes Nicken von allen Seiten.

„Belle", begann Vaughn wieder. „Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, dass du meine Seelengefährtin bist. Ich habe etwas gespürt, aber ich..."

„Habe eine Verlobte, der ich versprochen bin?", beendete ich den Satz. Ich zog meine Mauern hoch, die noch immer offenlagen. Baute sie höher. Schicht für Schicht. Verbarg die Narben an meinem Handgelenk, die ich immer so krampfhaft umklammerte. Festigte das Schild um meinen Geist, verstärkte mein physisches Schild

„Belle", begann er erneut. Sein Ton war bittend. Doch mein Blick ging durch ihn hindurch. Meine Bewegungen fühlten sich hölzern an, alles fühlte sich falsch an.

Mit dem Rücken zu ihm fragte ich leise: „Stimmt es? Bist du verlobt?"

Ich hörte ihn atmen, hörte die Verzweiflung. Weitere Tränen rollten über meine Wange.

„Ja."

„Aber", warf Rouven ein. „Er ist seit fünf Jahrhunderten verlobt, mit der verlorenen Prinzessin. Und das bist du! Die einzige Nachfahrin von Hero, dem Herrscher von Azralon, dem gesamten Reich der Fae."

Ich stockte und er sprach weiter. „Ich vermute, dass man dich zu deinem Schutz in einen jahrhundertelangen Schlaf versetzt hat. Du bist es auf jeden Fall! Die Krone und der Sternenstaub auf deiner Stirn sind eindeutig. Die Klinge ebenfalls. Niemand ohne königliches Blut kann Viridian führen."

Der Schmerz wurde stärker. „Es spielt keine Rolle." Ich konnte Rouvens Widerspruch schon sehen, deshalb fuhr ich fort. „Es spielt keine Rolle, weil Vaughn das nicht wusste. Er wusste nicht, dass ich seine Verlobte bin, er hat verschwiegen, dass er eine hat." Ich ging weiter und warf keinen Blick zurück. Vorbei an dem Feuerkreis, von dem nur noch versenkte Erde übriggeblieben war. Meine ganze Existenz war eine Lüge. Und Vaughn ein Teil dieser.

Ich hatte Viridian noch immer fest umklammert und als ich die Klinge hob, sah ich, dass Rouven Recht hatte, noch immer zierten goldene Sichel und Sterne den Punkt zwischen meinen Augenbrauen und den Weg über ihnen. Meine Augen blitzten, doch das Funkeln der Sterne in ihnen war erloschen.

Meine Schritte wurden noch schneller und sobald mich Vaughn nicht mehr sehen konnte, begann ich zu laufen.

Ich hatte es gesehen. Diesen Moment. Die Eule in der Höhle des Steinbruchs hatte es mir prophezeit. Dass ich über die Leichen der alejandrische Armee steigen und auf die Knie fallen würde. Doch ich war zu naiv, zu gutgläubig gewesen. Hatte gehofft, diesem Schicksal zu entgehen, dabei hatte ich ihm genau in die Karten gespielt.

Ich schluchze und meine Hand zitterte, während ich sie ausstreckte. Kalter, onyxfarbener Stein war alles, was von Les übriggeblieben war. Ich schickte meine Magie in die Statur, hoffte den Stein sprengen zu können, doch nichts tat sich.

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Entschuldigt die Verzögerung. Das nächste Kapitel kommt dafür dann etwas früher. ❤️

Ich habe mich sehr über eure vielen Kommentare unter dem letzten Kapitel gefreut.
Und bin natürlich wie immer happy über eure Votes und Kommentare unter diesem hier💛

The Lost PrincessWhere stories live. Discover now