Kapitel 93

92 15 26
                                    

„Weißt du." Coilin kniete sich neben mich. „Dass ich mich damals schon, im Palast meines Vaters, gefragt hatte, wieso mein Rubin derart heftig auf dich reagiert? Jetzt weiß ich es. Du hast seinen Zwilling um den Hals getragen, die ganze Zeit."

Ich nickte. „Meine Mutter hat ihn mir gegeben." Wahrscheinlich war sie überhaupt nicht meine Mutter und sie wusste, dass ich nicht ihre Tochter war. Ich hatte so viel mehr in diesem Krieg verloren, als ich geglaubt hatte.

Die Nacht über uns war klar. Die ersten Sterne erstrahlen bereits am Himmelszelt. Doch etwas hatte sich verändert. Neben den Sternenbildern Kassiopeia und Andromeda und über Orion war ein neues Sternenbild erschienen. Von der Größe ähnelte es Kassiopeia, nur war es um 45 Grad gedreht und etwas wellenförmiger. Die Sterne auf meiner Stirn waren eine exakte Abbildung des Sternenbilds am Himmelszelt.

Coilin zog seinen Rubin unter der Rüstung hervor. „Der Sage nach stammen sie aus ein und demselben Gegenstand. Ein magisches Relikt, dass im Kampf gegen die Anderswelt vor über tausend Jahren zerstört wurde."

„Was für ein Relikt?", fragte ich und legte meine Hand auf die Stelle, wo der Rubin lag.

„Das weiß niemand so genau." Coilin zuckte mit den Schultern. „Und Belle, wir werden alles dafür tun, um ihn zu befreien."

„Ich befürchte nur, dass das nicht ausreichen wird."

Nach einer Weile stand Coilin auf. „Wenn du etwas brauchst, Belle." Ich nickte. Gerade brauchte ich nur Ruhe. Zeit allein.

Ich blieb dort sitzen, die Stirn an Les gelehnt, bis die Sonne aufging.

Als die ersten Sonnenstrahlen des Tages auf Les fielen, richtete ich mich auf. Ich hörte Obsidians Atem und drehte mich zu ihm um.

„Würdest du mich zur Bucht bringen?" Er streckte einen seinen ledernen Flügel aus, über die ich auf seinen Rücken klettern konnte. „Danke!" Ich legte meine Hände auf die angenehm warmen Schuppen. „Geht es euch gut?"

Obsidian brummte zur Antwort, stieß sich schwungvoll vom Boden ab und schwang sich in die Lüfte. Als die Bucht unter uns lag, setzte er zu einem Sturzflug an und anstatt Angst zu haben, genoss ich es. Den Wind, die Schwerelosigkeit. Erst kurz bevor wir den Boden berührte, drehte er ab und landete wenige Augenblicke später direkt im Lager von Arubiens Armee.

Ich verstand ihr Keuchen. Niemand von ihnen hatte jemals einen Drachen gesehen. Ich rutschte von Obsidians Rücken und registrierte erleichtert, dass er keine Anstalten machte, sich erneut in die Lüfte zu schwingen. Um uns herum wurde es still. Eine absolute, unnatürliche Stille, die sich über das gesamte Lager legte. Ich verstand sie. War ich doch selbst froh, in keinen Spiegel sehen zu müssen.

Ich trug noch immer meine Rüstung. Doch wenn man genau hinsah, konnte man die Narben an meinen Handgelenken sehen, die blutroten Linien, die unter meinem Ärmel verschwanden. Der Abdruck des Ringes, der sich ein Jahrzehnt lang in meine Haut eingeschnitten hatte. Der Rubin, der von Brandnarben umgeben war. Zum ersten Mal zeigte ich alles, offenbarte meine Narben, meinen Schmerz, meine Geschichte. Mein Blick wanderte forschend über die Soldaten und Soldatinnen. Im Gegensatz zu der alejandrischen Armee waren diese hier nämlich auch gestattet und erwünscht.

Die Nachricht muss sich bereits herumgesprochen haben, denn die Ehrfurcht auf ihren Gesichtern sagte alles. Dennoch sah ich noch viel mehr. Anerkennung, Dankbarkeit, Hoffnung. Einige hatten Tränen in den Augen. Bewunderung und, was seltsam war, Stolz. Eine Soldatin nahm ihren Schal vom Hals und entblößte eine Narbe, die feuerrot leuchtete. Ich nickte ihr zu und sie lächelte zurück. Ein Soldat hob den Kopf und strich seine Haare zurück, die vorher sein fehlendes Ohr verborgen hatten. Köpfe wurden angehoben, Rücken gestreckt. Jeder hatte etwas, dass er zu verstecken suchte. Jeder hatte einen Makel, der eine Geschichte erzählte. Aber war es nicht das, worauf es ankam? Eine Vergangenheit zu haben und diese anzuerkennen? Wenn man mich fragte, konnte ich stolzer kaum sein. Wir alle waren Überlebende.

Sie machten Vaughn und seinen Vertrauten Platz, als dieser in meine Richtung kam. Ich erwiderte seinen Blick. Die Soldaten wurden unruhig und ihre Blicke ungläubig. Auch ich bemerkte jetzt das Schimmern, die Aura, die Vaughn umgab, die vorher nicht da gewesen war.

Dann begannen die Blicke zwischen Vaughn und mir hin und her zu schnellen. Rouven versuchte ein Grinsen zu unterdrücken und Coilin zwinkerte mir zu, was mich nur noch verwirrter dreinschauen ließ.

Vaughn stellte sich neben mich. „Was ihr hier seht." Er deutete auf uns beide. „Gab es früher oft. So sehen Seelengefährten aus, die ihre Schilder gesenkt haben, wenn sie in der Nähe des anderen sind. Nachdem sie eine körperliche Vereinigung eingegangen sind." Applaus und Johlen erklang und ich verstand Rouvens anzügliches Grinsen und Coilins Zwinkern. Mist. Nicht rot werden, Belle!

Tatsächlich spürte ich die Wärme einer eigenen Aura, die jetzt mit Vaughns zu verschmelzen begann. „König und Königin, die Seelengefährten sind, gibt es nur selten, weil die Macht dieser Verbindung kaum Grenzen gesetzt sind. Ihre Verbindung ist ein wahrer Segen für ihre Länder. Der Boden wird fruchtbarer, die Ernten reicher, Neugeborene verfügen über mehr Magie. Die ersten Elfen sind aus so einer Verbindung entstanden, genauso wie geflügelte Fae und einst auch die längst ausgestorbenen Oryxe und Narwale. Die Magie unserer Länder ist schwächer geworden seit der Spaltung Azralons und dem Verschwinden der ursprünglichen Königsfamilie, aber ab jetzt werden wir wieder stärker."

Jubel brach aus, wogte wie ein Schiff auf stürmischen Wellen durch die Soldaten. Sie applaudierten, brüllten, johlten und ich konnte es nicht leugnen. Ich fühlte es auch, die Macht der Zuversicht.

Dann wurde es mit einem Mal wieder mucksmäuschenstill. Mein Blick wanderte über die Menge. Überraschung und Freude lag auf ihren Gesichtern und alle schauten mich an, erwiderten meinen Blick.

Jemand räusperte sich neben mir und als ich zu Vaughn sah, erkannte ich den Grund für den Stimmungswechsel. Er kniete vor mir. Genauso wie im Wald mit Verdikal.

Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und räusperte sich erneut. „Belle, ich verstehe, dass du es mir vorher nicht gesagt hast. Ich verstehe, wieso du mich von dir gestoßen hast. Du wusstest genau, dass ich dich niemals gehen gelassen hätte. Wenn ich gewusst hätte, dass du meine Seelengefährtin bist, hätte ich alles dafür getan, damit du dieses Schiff nicht verlässt. Ich bereue, dir gegenüber nicht die vollständige Wahrheit gesagt zu haben, aber ich verspreche dir hiermit, dass das nicht wieder vorkommen wird." Raunen ging durch die Menge. Das Versprechen eines Faes war mächtig. Das eines Königs in Stein gemeißelt.

„Ich bitte dich nicht meine Gefährtin zu sein. Ich bitte dich diese Verbindung anzunehmen. Anzuerkennen, was wir füreinander sein können, wenn wir beide das wollen."

Und da spürte ich es das erste Mal. Dieses Ziehen ausgehend von meinem Herzen, meinem Geist, meinem ganzen Sein zu ihm. Ich spürte ihn in meinem Geist, konnte ihn nicht zurückweisen und wollte es auch nicht. Mein Stolz war verletzt, mein Vertrauen in ihn erschüttert aber nicht zum Einsturz gebracht. Ich verstand ihn, vermutlich hätte ich nicht anders gehandelt. Zärtlich streicht seine Magie über meinen Geist. Brachte meine Magie zum Brodeln.

„Du bist mein Gefährte."

Und als er sich erhob und mich küsste, wurde ich von Glücksgefühlen überrollt, die alles unter sich begruben. Das Herz in meiner Brust schlug schneller als je zuvor, lauter als die johlende Menge und ein zweites Pochen, genauso schnell wie meins, erklang im selben Rhythmus. Ich werde nie wieder allein sein.

„Du wirst nie wieder allein sein", flüsterte er.

Er hob unsere ineinander verschränkten Handgelenke, in dessen Innenseiten, direkt unter meinen Narben, ein rotes Zeichen erschien. Eine Mondsichel über der Silhouette einer Bergkette.

_________

Was sagt ihr?💫

PS: Mein Silvester wird überraschenderweise ganz anders als ich es vermutet habe. Ich habe gedacht, wir sind zu 5 und vorhin erfahren, dass wir zu 10 sind 😅🙈

The Lost PrincessWhere stories live. Discover now