Kapitel 43

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Zurück im Turm fand ich einen schlafenden Keno vor. Zusammen mit Okku nahm er die gesamte Breite des Bettes ein und schien sich überaus wohl zu fühlen. Ich deckte beide zu, unter den wachsamen Blick des runden Monsters und machte es mir auf der Chaiselounge gemütlich.

Ich schloss die Augen, doch die Bilder in meinem Kopf gaben keine Ruhe. Nachdem der Mond seinen höchsten Punkt bereits erreicht hatte, griff ich nach meinem ledernen Notizbuch und begann zu schreiben. Die Gedanken an den bevorstehenden Krieg, an den Ball, an das was die Fae mit den rosa Haaren gesagt hatte, verschwanden einfach nicht aus meinem Kopf. Aber kein Gedanke war so präsent, so angsteinflößend, wie der, dass es meinem Vater tatsächlich gelungen sein könnte, schwarze Magie zu beherrschen.

Ich schreckte aus dem Schlaf hoch, als eine kleine Hand mich an der Schulter antippte. Kenos Blick war unruhig und auf etwas gerichtet, was sich augenscheinlich hinter mir befand. Ich hörte Okkus Knurren und dann ein Laut, der mir bekannt vorkam. Schwungvoll drehte ich mich um und sah mich dem weißen Schneeleoparden gegenüber. Dieser legte dem Kopf schief und schien zu sagen. „Hallo, du auch hier?"

„Hey", flüsterte ich und ging auf ihn zu. Erst da wurde mir bewusst, dass Okku dem weißen Jungtier gegenüber stand. Mehr als bereit zum Angriff. „Keno, es ist okay. Ich kenne ihn", versicherte ich dem Jungen, dessen Blick vor Unglauben nur so triefte.

„Er ist aus dem Nichts aufgetaucht!", protestierte Keno und machte keine Anstalten Okku zurück zu pfeifen.

„Er hat mir geholfen", erklärte ich und schob mich vorsichtig zwischen die beiden Tiere. Der Leopard bleckte die Zähne, als Okkus Knurren eine Spur lauter wurde. Ich ging vor ihm und streckte ihm meine Hand entgegen. „Du Süßer, was machst du hier?" Er legte seinen Kopf auf meine Hand und ließ zu, dass ich ihn sanft streichelte. Keno gab einen entzückten Laut von sich und Okku wollte sich gerade zurückziehen, als die Tür aufflog und ich meinen Kopf herum riss.

Gerade rechtzeitig um zu sehen wie herein ziehender schwarzer Rauch die Umrisse einer Person annahm. „Keno, raus hier", fluchte der Rauch. Mein Hand lag nicht mehr auf weichen Fell und als ich mich umdrehte, war von dem Schneeleopard nichts mehr zu sehen. Keno schaute irritiert und auch Okku begann nervös zu schnuppern. Ich hatte die Stimme schon erkannt, bevor man deutlich sehen konnte, wer aus dem Rauch trat. Vaughns Blick war eisig, er triefte vor Hass und Missbilligung. Noch deutlich mehr als in den gesamten letzten Wochen sah ich die Verachtung in seinem Blick.

„Aber wieso?", Kenos Stimme klang kindlicher als sonst. Er hatte trotzig das Kinn vorgeschoben und sah zu seinem König hoch. Dieser schien keineswegs überrascht über die Unverfrorenheit des Kindes, das ihm widersprach. „Keno, verlass dieses Zimmer. Ich verbiete dir es jemals wieder zu betreten." Jetzt war es an mir erschrocken zu keuchen. In den Augen des Jungen sammelten sich Tränen.

„Wieso?", fragte er leise.

„Er hat nichts getan. Und der Schneeleopard hätte ihn nicht angegriffen", verteidige ich ihn ohne nachzudenken. Was sich als Fehler heraus stellte.

„Ganz genau. Der Schneeleopard ist hier nicht die Gefahr. Du bist es." Er wandte sich Keno zu. „Glaub mir, du willst nicht in ihrer Nähe sein." Als er sich an den Jungen wandte, war seine Stimme beinahe zärtlich. Doch der Unwillen auf dem Gesicht des Jungen war deutlich und Vaughn wurde ungeduldig. „Gleich wirst du dir wünschen nicht so stur gewesen zu sein", warnte er Keno, der auf der Stelle verharrte.

Ich erstarrte. „Sie war es, okay? Sie hat unserer Schwestern umgebracht." Ich atmete nicht mehr, während sich die Teile in meinem Kopf miteinander verbanden. Kenos Blick brach etwas in mir, von dem ich gedacht hätte, es konnte nicht weiter kaputt gehen. Seine Enttäuschung lehrte mich etwas besseren. Er zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass stimmte, was Vaughn sagte. Sein Bruder.

Entsetzten erfasste mich. Schuldgefühle überschwemmten und begruben mich. Er wird sich für immer dafür hassen, dass er sich von mir etwas vorlesen ließ. Dass er in meinem Bett geschlafen hat. Dieser Junge wird sich für immer dafür hassen, dass er mich nicht gehasst hat. Und es dafür ab sofort mit einer Inbrunst tun, die dem Hass seines Bruders in nichts nachstehen wird.

Sogar Okku fletschte seine gelben Zähne und tapste drohend ein paar Schritte in meine Richtung, bevor er hinter Keno her rannte, der aus dem Zimmer gestürmt war. Mein Mund öffnete und schloss sich wieder. Vaughns Augen verschwommen in der Dunkelheit. Der gesamte Raum schien an Helligkeit zu verlieren. Ich schmeckte den Hass und die Verachtung auf der Zunge. Ließ es zu, inhalierte die Empfindungen, die er mir sendete. Verinnerlichte sie. Bestrafte mich selbst damit. Weil ich es nicht anders verdient hatte.

„Ich habe es nicht gewusst", flüsterte ich, lange nachdem Vaughn verschwunden war. Noch immer brannte sein Blick auf meiner Haut. Mein Zimmer bliebdunkel, als hätte er die Helligkeit aus meiner Umgebung gesaugt.

Als Runa am Abend mein Zimmer betrat, stellt sie einen Teller mit gegrilltem Käse, gegartem Gemüse und einer hellen Soße ab, der mir normalerweise das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Doch ich empfand keinen Appetit. Ich musste einfach noch etwas länger in der Dunkelheit ausharren. Und wenn etwas Gras über die Sache gewachsen war, werde ich einen letzten Schritt wagen. Ich würde einen Teil beitragen. Ich musste einfach etwas tun. Selbst wenn es mich dieses Mal wirklich umbringt. Das spielte keine Rolle. Niemand anderes wird ihm so nah kommen, wie ich.

„Arabella, es tut mir leid. Aber der König verlangt eure Anwesenheit." Luft entwich aus meinen Lungen, wie aus einer platzenden Blase. Sie sah mir meinen Schreck augenblicklich an und biss sich auf die Lippe. Während ich immer blasser wurde, breiteten sich rote Flecken auf ihrem Hals aus. „Ich... Wir haben nicht viel Zeit. Er hat sehr deutlich gemacht, dass es keine andere Möglichkeit gibt. Wenn du dich nicht fügst, wird er dich zwingen." Als mir Tränen in die Augen stiegen, sprang ich auf. Ich wollte schreien, etwas kaputt machen, irgendwie zeigen, was in mir vorging. Doch das würde keinen Unterschied machen. Es interessierte niemanden. Und sobald mich diese Erkenntnis überrollte, wie eine stürmische Welle, setzte ich mich auf den mit rotem Samt überzogenem Sessel und schloss die Augen.

Ich brauche nicht in den Spiegel zu schauen, um zu wissen, wie ich aussah. Wie meine Augen mit schwarzem Stift geschminkt waren, sodass sie heller, größer, unnatürlicher aussahen. Ich spürte die Kälte am gesamten Körper. Mein Rücken war fast vollständig unbedeckt, meine Brüste nur mit einem Hauch von Stoff verhüllt. Um meine Beine wehte ein leichter Rock, von dem ich ohne hinzuschauen annahm, dass er größtenteils transparent war. Meine Nägel funkelten in einem Silber, das dem der Sterne Konkurrenz machen wollte. Meine Lippen fühlten sich schwer an. Der Druck von Armbändern, Kette, Ringen und Ohrringen war schier unerträglich.

Meine Füße wollten nicht so richtig vorwärts gehen. In meinem Geist tobte ein Wirbelsturm, aus schrecklichen Ereignissen, die heute passieren könnten. Das ungute Gefühl nahm zu. Mit jedem Schritt, jedem Atemzug. Endlos erschienen die Qualen, die mir dieser Abend bereiten könnte. Und gleich würde ich wissen, wie recht ich hatte.

Sobald ich den Saal betrat, begann eine Folter, dessen Kraft und Schmerz und Leid selbst mir den Atem raubte.

Das ist sie?

Hure!

Mörderin!

Die Prinzessin vom Frühlingshof?

Eine Schande.

Tod sollte sie sein.

The Lost PrincessWhere stories live. Discover now