Kapitel 90

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Wo der Feuerring gelodert hatte, war nur noch ein versenkter Halbkreis zu erkennen. Sobald ich ihn überschritten hatte, veränderte sich die Luft. Sie roch plötzlich nach gefallenem Regen im Wald, jungen Zweigen im Frühling, schmeckte nach dem ersten Schnee im Winter, fühlte sich an wie strahlender Sonnenschein im Sommer. Alles auf einmal. Und noch viel mehr.

Ich sah wie kleine, grüne Sprösslinge aus dem Boden schossen, Kirchbaumblüten ihre gesamte Pracht entfalteten, Wurzeln von vertrockneten Bäumen zum Leben erwachten und sich wieder in die Erde gruben. Ich spürte mehr als ich es sah, wie das Wasser in den Quellen zu sprudeln begann, ausgetrocknete Flüsse und Seen wieder gefüllt wurden. Wasserelfen erwachten, Waldelfen von Blatt zu Blatt flogen, Pirouetten drehten und aufgeregt mit den Ohren wackelten.

Ich spürte die uralte Magie der Drachen, wie sie heilend über das Land strömte. Als die ersten Regentropfen fielen, weich auf meiner Haut landeten, hob ich mein Gesicht gen Himmel. Es regnete. Endlich. Die Magie der Drachen hatte den Regen zurückgebracht. Doch ich sah auch das, was ihre Magie nicht rückgängig machen konnte.

Die Toten. Ganze Dörfer, die bis auf die Grundmauern niedergebrannt wurden. Verlassene Städte, herumirrende Kinder, Wilkies mit Brandwunden, Fae mit abgetrennten Gliedmaßen. Und dann hörte ich es.

Den Schlachtlärm. Klingen, die aufeinandertrafen. Todesschreie, Warnrufe, animalisches Brüllen.

Ich trat an den Abgrund und die Schlacht unter mir war in vollem Gange. Die alejandrische Armee kämpfte unbeirrt weiter. Wie besessen stiegen sie über ihre Gefallenen hinweg, um deren Platz einzunehmen und weiterzukämpfen.

Ohne hinzuschauen, griff meine Magie nach dem Leichnam des dunklen Königs, den ich zwischen den Fronten fallen ließ. Augenblicklich hielten die Krieger inne. Blicke schnellten hoch zu mir.

Doch was ich sah, ließ die Teile, in die mein Herz zersprungen war, vor Schmerz erzittern. Les war keineswegs von den Schatten befreit, noch immer stand er versteinert in den Reihen der alejandrischen Armee. Die untergehende Sonne tauchte die Statur in funkelndes Licht. Trauer, so roh, unbändig und gewaltig erfüllte mein ganzes Bewusstsein.

Ein Raunen ertönte und heißer Atem traf meine Haut, als Obsidian neben mir landete. Ich spürte wie meine Gesichtszüge neutral wurden, wie ich den Schmerz wegsperrte, um nicht überrollt zu werden. Ich spürte die Schönheit der Regentropfen nicht mehr.

„Der dunkle König ist tot. Legt eure Schwerter nieder." Der Wind trug meine Wörter bis zu den letzten Reihen der Armee. Doch sie reagierten nicht. Ich schritt zwischen den Armeen entlang. In den Gesichtern der alejandrischen Soldaten war keine Regung zu erkennen. Die einzige Antwort, die ich bekam, war eisiges Schweigen, dann kam die Kälte.

Ich spürte seinen Blick. Seine Intensität, doch ich kämpfe gegen den Impuls ihn anzusehen an und gewann. Der rote Drache fauchte und nur einen Augenblick später, traten vier Schattenpferde samt Reitern aus dem Nichts hervor.

„Hallo Arabella, schön dich zu sehen." Ich kannte die Stimme.

Ich erinnerte mich an rosa Blütenregen, Les Wiehern. Die Falle. Der Nigromfürst, der lächelnd vor meinen Augen zu Staub zerfallen war, stand jetzt vor mir.

„Die Überraschung in deinen Augen ehrt mich." Er neigte den Kopf leicht. Schatten leckten an seinen Stiefeln, tanzten um seine Finger, loderten in seinen rotglühenden Augen. „Ich muss gestehen, ich hätte dich wirklich gerne an meiner Seite gehabt, aber nun, ist deine Zeit vorüber. Und die Drachen, was für ein Geschenk!"

Ich spürte Vaughn, wie er gegen meine Barriere drängte. Die Mauer aus anthrazitfarbenem Stein in meinem Geist war längst nicht mehr so unüberwindlich, wie sie es mal gewesen war. Und ich tat das einzig richtige, ungeachtet des dumpfen Schmerzes in meiner Brust, ließ ich ihn ein.

The Lost PrincessWhere stories live. Discover now