Kapitel 60

101 14 8
                                    

Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Baumkronen brachen und den Wald in einen goldenen Schimmer tauchten, schwang ich mich von Les Rücken. Meine Füße erreichten den taufrischen, weichen Moos Boden und ich schmiegte mich enger an seinen Hals. „Hättest du mich nicht warnen können, dass der Boden kalt ist?", schimpfte ich leise. Les schnaubte mir etwas warme Luft ins Gesicht und ich stupste ihn kichernd gegen die Nase. 

Barfuß wich ich vom Pfad ab. Meine Schritte hinterließen das Knistern von Blättern auf dem Waldboden. Die Baumstämme ragten in ihrer vollen Größe vor uns auf. Ihre Blätter trugen von dunklem rot, über sattes grün und tiefes braun alle Töne, die die Farbpalette hergab. Das besondere waren die Bäume, die Blüten trugen, die von einem zarten schneeweiß, über ein sanftes rosa bis zu einem intensiven Gelb reichten.

Les Hufe hinterließen nicht das geringste Geräusch auf dem Waldboden, als er mir folgte. Ich stolperte über eine der Wurzeln und fing mich gerade noch bevor ich der Länge nach auf dem Boden aufschlug. Ich grinste kopfschüttelnd und tätschelte den rauen Stamm des dazugehörigen Baumes.

Erst als ich eine Lichtung erreichte, dessen Boden mit hellrosa, lavendelfarbenen und blassem violettroten Blüten übersät war, hielt ich inne. Ich suchte mir einen kleinen Ableger und fand ihn in Gestalt eines kleinen Bäumchens. Etwas streifte meinen Kopf und ich zuckte kurz zusammen, bevor ich den Zweig aus meinen Haaren zog. Misstrauisch hob ich den Blick und suchte die Äste ab. Erlaubte sich einer dieser kleinen Puschel, einen Scherz mit mir? Und tatsächlich sah ich eine flinke kleine Gestalt den Baumstamm hoch rennen. 

Gerade als mich an einem der Äste hochziehen wollte, wurde ich mit einer ganzen Ladung Blüten überschüttet und ich rutschte ab. Dann traf mich eine Erinnerung, die mir den Boden unter den Füßen wegzog. Ich sah Les und mich als kleines Mädchen. Ich kannte die Lichtung auf der wir waren, sie war nicht weit vom Stall entfernt.

Hohes Kichern um mich herum, Blüten die auf mich herum rieselten wie sanfte Regentropfen und ein Schimmern, das von der Rinde der Bäume und der Maserung der Blätter ausging, jedoch so gar nichts mit den Strahlen der Sonne zu tun hatte. Und ich tanzte. Mitten auf dieser Lichtung. In diesem Blütenregen bewegte ich mich zum Rascheln der Blätter, zum Pfeifen des Windes und dem Knarzen der Bäume.

Der Schimmer wurde heller. Er brachte meine Haut zum Leuchten. Um mich herum erwachte der Wald. Neue Knospen öffneten sich, die Farben der Blüten strahlten heller, die Wurzeln der Bäume gruben sich tiefer in die Erde. Ich erhaschte einen Blick auf die Flügel einer Waldelfe, den buschigen Schwanz eines Baumbewohners und einen ganzen Schwarm gelber, winziger Vögel, die sich auf einem Ast niedergelassen hatten.

Dieser Moment entsprach genau dem Gefühl, dass ich hatte wenn ich Keno vorlas und an der schönsten Stelle eines Märchens angekommen war. Es war absolut magisch.

Der Tau drang durch den dünnen Stoff meines Kleides, doch mir war nicht kalt. Ich spürte eine Wärme in mir, die nicht vertrieben werden konnte. Ich rappelte mich hoch und mein Blick wurde vorwurfsvoll, als Les nicht einmal den Kopf hob, sondern in aller Seelenruhe weiter fraß.

„Hilf mir bloß nicht, Les!", maulte ich und klopfte mir die Blätter vom Kleid. Dann hob ich den Blick. „Danke", sagte ich an niemand bestimmten.

Dann veränderte sich die Stille im Wald. Es wurde zu still. Les hielt alarmiert inne und seine Ohren zuckten nervös. Ich verfluchte meinen nächtlichen Leichtsinn, ohne Schwert aufzubrechen und griff nach dem schmalen Messer, das ich an meinem Bein befestigt hatte.

Ich musste es nicht aussprechen. Les stand innerhalb eines Wimpernschlages neben mir und einen später war ich tief über seinen Hals gebeugt und befand mich auf dem schnellsten Ritt, den ich je erlebt hatte. Und genau das war die Tatsache, die mir Angst machte. Sie war lähmend, allumfassend. Les wurde nicht langsamer. Ich spürte seine Muskeln, hörte das Donnern der Hufe und klammerte mich mit ganzer Kraft an ihm fest, als er abrupt anhielt. 

The Lost PrincessWhere stories live. Discover now