Chimären und Homunkuli

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Aaros - Die Chimäre ist ein Kind der Wissenschaft, las ich. Sie wird von Menschenhand geschaffen und muss von dieser geleitet werden. Sie hat keinen natürlichen Platz in dieser Welt, denn sie selbst ist nicht natürlich. Dennoch wird sie uns zu dem Platz in der Welt verhelfen, den wir so begehren. Nicht mehr und nicht weniger als die absolute Herrschaft über alles Leben.

Ich runzelte die Stirn. Ein bisschen dramatisch, fand ich. Und das war erst der Klappentext.

Wie ich herausgefunden hatte, handelte es sich bei Sergej Asmov um einen risischen Autor. Angesichts der aktuellen Krise zwischen unseren Ländern, musste es wohl vor einer ganzen Weile hier erschienen sein. Wann genau, oder ob Asmov noch lebte, das konnte ich allerdings nicht herausfinden. Dass Ris die Weltherrschaft anstrebte, war mir neu, also war der gute Herr Asmov vielleicht nicht mehr ganz bei Verstand gewesen, als er diese Zeilen geschrieben hatte. Auf dem dunkeln Umschlag prangte das Bild einer Bestie, ein Wesen mit Löwenkopf und Ochsenkörper, auf dessen Rücken ein Paar Flügel wuchsen. Ich hatte noch nie von einer derartigen Kreatur gehört und fragte mich, ob irgendwelche Alchemisten tatsächlich so etwas geschaffen hatten.

Nun, es ist Zeit genau das herauszufinden!

Ich machte es mir bequem und schlug das erste Kapitel auf. Es war eine Einleitung des Autors.

Gott hat einst das Leben auf der Welt geschaffen. Wir Menschen stehen seit jeher in seinem Schatten, verehren ihn, huldigen ihm. Wenn sich nun eine Möglichkeit für uns offenbarte, mit Gott gleichzuziehen, ja, ihn zu übertreffen, stünden wir nicht in der Pflicht, genau dies zu tun?

Die Alchemie ist es, die uns dies ermöglicht. Mit ihr können wir nicht nur neue Elemente erschaffen und Wunden heilen. Viel bemerkenswerter ist die Tatsache, dass wir inzwischen sogar in der Lage sind, Leben zu erschaffen. Begonnen haben wir mit Chimären, künstlich geschaffenen oder veränderten Tierwesen mit dem Ziel, diese für die Zwecke des Menschen zu optimieren. Nehmen wir beispielsweise eine gewöhnliche Kuh. Sie kann einen Pflug ziehen, Milch geben und uns nach ihrem Tode als Fleischquelle dienen. Doch was, wenn wir die Kuh so verändern, dass sie auf eine dieser Disziplinen spezialisiert ist? Moderne Transmutation ermöglicht es uns. Eine Kuh mit mehr Muskelmasse kann fünf Pflüge gleichzeitig ziehen und behält dennoch ihr gutmütiges Wesen, das sie zu dem macht, was sie ist. Doch es bleibt nicht bei dieser Kuh. Wenn wir das beste von einem jeden Tier nehmen und es zu einem großen Ganzen zusammenfügen, können wir am Ende die Ultimative Chimäre erschaffen.

Ich schluckte. Ich kam nicht vom Land und wusste nicht, ob solch muskulöse Kühe dort wirklich in der Landwirtschaft eingesetzt wurden. Allerdings lag die Vermutung nahe, dass kein einziger Bauer sich eine solche Kuh leisten konnte. Und bitte was war die Ultimative Chimäre? Konnte man einfach so bestimmen, was das beste an einem Tier war? Ich wollte herausfinden, ob er diese Fragen noch beantwortete, also las ich weiter.

Wohingegen Chimären keine bloßen Hirngespinste der Alchemisten mehr sind, sondern längst unter uns weilen, versteht es der Homunkulus noch immer, sich vor uns zu verbergen. Wenn die Kreation von Tierwesen uns mit Gott auf eine Stufe stellt, so hebt uns die eines Menschen in noch höhere Sphären. „Warum?", fragt ihr jetzt sicher. „Gott hat auch Menschen geschaffen. Weshalb soll uns dies ihm überlegen machen?"

Dazu sage ich: Wenn der Mensch selbst den Menschen erschaffen kann, nimmt er Gott seine Macht. Gott wird obsolet. Die Erschaffung eines Menschen durch Alchemistenhand wird den Allmächtigen von seinem Thron stürzen und uns in seinen Himmel erheben.

Jetzt ging es nicht mehr nur um die Weltherrschaft, sondern direkt um den Status als Gott? Das musste ich erst einmal verdauen.

Ich hatte immer gedacht, die Wissenschaft existiere nur um der Wissenschaft Willen, doch jetzt sah ich, dass dies eine naive Einstellung gewesen war. Natürlich ging es um Gewinn und um Macht. Was anderes machten denn die Alchemisten hier in Werrich? Auch sie forschten an neuen Kriegsbestien, die ihnen in der Schlacht den entscheidenden Vorteil bescherten.

„Chimären", sagte ich laut. „Homunkuli."

Die Worte klangen fremd und bitter.

Doch ich kannte noch zu wenig Fakten. Ich widmete mich wieder der Lektüre.

Natürlich kann ein solcher Fortschritt nicht von dem einen auf den anderen Tag erreicht werden. Wir sind noch zu jung und zu arrogant, eine solche Macht beherrschen oder verantworten zu können, doch das wird uns nicht davon abhalten, es zu versuchen. Deshalb appelliere ich an all jene, die dieses Werk in den Händen halten: Geht mit dem Wissen, das ihr diesen Seiten entnehmt, verantwortungsvoll um, auf dass es die Menschheit weiterbringe und sie nicht vernichte.

Was hatte der Ethiklehrer noch immer gesagt? „Macht ist nicht gut. Macht ist nicht böse. Macht ist. Das ist alles. Es liegt an uns, was wir aus ihr machen."

Mein ganzer Körper war angespannt. Das Vorwort hatte mich gefesselt, ich wollte unbedingt mehr wissen! Gierig blätterte ich durch das Buch. Ernüchternd stellte ich fest, dass der Rest der Lektüre aus einer ganzen Reihe Versuchsbeschreibungen und chemischer Formeln bestand, die wohl kaum die selbe Spannung erzeugen konnten wie diese Einleitung. Trotzdem war ich gewillt, weiterzulesen.

Auch das weitere Buch war harter Tobak. Allerdings weniger wegen ethischer Fragen und eifriger Behauptungen, sondern eher weil ich kaum einen Absatz lesen konnte, ohne intensiv darüber nachzudenken. Ich hatte eine gute Schule besucht. Eine Schule, die versiert war auf Physik, Chemie und Biologie und ich hatte immer zu den besten gezählt. Doch hier wurde ich eindeutig in meine Schranken gewiesen. Nichts machte beim ersten Lesen einen Sinn, die Fußnoten machten alles noch verwirrender und ich liebäugelte einige Male mit dem Gedanken, das Buch beiseite zu legen und mir eine leichtere Lektüre zu gönnen. Aber dann merkte ich, wie mir das Lesen von Minute zu Minute leichter fiel. Passagen, die am Anfang noch keinen Sinn gemacht hatten, erschlossen sich mir mit einem Mal, die Formeln wurden klarer und ich brauchte für einzelne Abschnitte nur noch die Hälfte der Zeit. Bald genoss ich die Anstrengung, die das Buch meinem Hirn bereitete. Endlich konnte ich mal wieder ich sein! Nicht der Gefreite Aaros Batista, sondern der Schüler, der angehende Student, der Arzt werden wollte!

Ich war wie hypnotisiert als ich mir all das Wissen einverleibte. Ich las von einfachen Transmutationen kleinerer Tiere, wie zum Beispiel Ratte und Kanarienvogel, die zu einer Kreatur namens Aposeri vereint wurden, mit der im Bergwerk nach Grubengas gesucht wurde. Die Aposeri hatten gegenüber gewöhnlichen Kanarienvögeln den Vorteil, dass sie zusätzlich mit der enormen Intelligenz der Ratte ausgestattet waren. Somit konnte man sie aussetzen und in verschiedene Richtungen losschicken. Wenn ein Aposeri auf Grubengas stieß, machte er automatisch kehrt und lief zu den Bergleuten zurück, die daraufhin wussten, welche Tunnel sie meiden mussten. Die Transmutation war billig und auf jeden Fall der Begehung vermeintlich gefährlicher Tunnel vorzuziehen. Es war wirklich faszinierend, welch einfache Veränderungen schon für die Menschen von Nutzen waren.

Solch kommerziell nützlichen Chimären war nur ein kleiner Teil des Buches gewidmet. Sergej Asmov war, wie so viele andere Alchemisten, hauptsächlich für das Militär tätig und ein besonderes Augenmerk seiner Forschung lag demnach auf den Kriegsbestien, die hier lang und breit beschrieben wurden. Ich fand eine Abhandlung über den Panzerbären, der angeblich zehnmal schneller und stärker war als ein gewöhnlicher Braunbär. Dann gab es noch den Donneradler, der dem carcanischen Kriegsfalken nicht unähnlich war. Die Skizze des Adlers war allerdings um ein Vielfaches anmutiger als das Monster, das uns auf der Schießbahn angegriffen hatte. Dieses Wesen in dem Buch vorzufinden, wunderte mich nicht, immerhin war der Adler das Wappentier von Ris. Es half bestimmt der Moral der Soldaten mit diesen Wesen in die Schlacht zu ziehen. Ob wir auch einen transmutierten Berglöwen in einer der Zellen halten?

Über die Spinnhunde konnte ich nichts finden. Wahrscheinlich war im flachen Ris noch niemand auf die Idee gekommen, Hunde zu züchten, die die Wände hochgehen konnten, oder einen steilen Berg, wenn das denn verlangt wurde.

Von Seite zu Seite wurden die Chimären exotischer. Es war von feuerspeienden Waranen die Rede, von Nashörnern mit Diamantenhaut, ja sogar von fliegenden Walen. Und bei jedem neuen Wesen fragte ich mich, ob wohl ein Exemplar irgendwo auf der Welt existierte.

Ich merkte kaum, wie der Tag an mir vorbeizog. Es entging mir völlig, dass Elmar am Abend nicht zurückkehrte. Ich hörte meinen Magen nicht, grummeln, der lautstark nach Essen verlangte. Ich las und las und las und war gefangen in einer anderen Welt. Wie gerne hätte ich noch etwas über die Homunkuli herausgefunden, doch irgendwann fielen mir einfach die Augen zu und ich entglitt ins Reich der Träume.

Carcan - Die WinterkriegeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt