In Verdun

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Elli - Die Straße nach Verdun, wenn man den holprigen Feldweg überhaupt als solche bezeichnen konnte, war menschenleer. Besonders überrascht war ich deshalb nicht, immerhin verirrten sich nur selten Auswärtige nach Steinfeld und die Dorfbevölkerung war bereits mehrheitlich in der Mine oder noch zuhause. Nach einer halben Stunde Marsch fing es an zu schneien und ich zog mir die Kapuze über den Kopf. Meine nun kurzen Haare waren noch immer Neuland für mich, doch ich musste mich wohl dran gewöhnen, um bei anderen kein Misstrauen zu erwecken.

Außerdem brauchte ich einen Namen.

Keine Mutter nannte ihren Sohn Elli, ich brauchte etwas, das männlicher und härter klang. Richard vielleicht, oder Markus. Oder etwas exotischeres wie Dantos oder Sonnis. Andererseits war das alles meinem eigentlichen Namen nicht sehr ähnlich und wenn ich auf Zuruf nicht reagierte, stand ich wohl ein bisschen blöd da. Etwas mit E wäre sicher gut.

Eduard. Ernst. Elmar.

Elmar gefiel mir spontan nicht schlecht. Auch konnte ich so im Zweifel erklären, warum ich mich mit Elli vorstellte, ein Kosename aus Kindheitstagen. Ja, Elmar war akzeptabel. Meinen Nachnamen würde ich einfach behalten. Ich glaubte nicht, dass jemand prüfen würde, ob ein Elmar Pelter wirklich existierte. Und wenn doch, würde auch ein falscher Nachname nichts nützen.

Langsam blieb der Schnee liegen und ich hinterließ knirschend Fußabdrücke. Ich hatte den Schnee immer gemocht. Als Schneehasser war man allerdings in Carcan auch alles andere als gut aufgehoben, denn in dem Bergstaat hielt der Winter in der Regel bis zu acht Monate an. Schnee lag oft die Hälfte des Jahres und nicht selten waren Pässe im Hochland blockiert und die Menschen in ihren Häusern gefangen. Viele waren so schon verhungert oder erschlagen worden als die Dächer die Schneemassen nicht mehr tragen konnten und über ihren Köpfen eingefallen waren.

„Magst du den Schnee auch, Elmar?", fragte ich meine neue Persönlichkeit. „Aber natürlich magst du Schnee, du wirst in nächster Zeit viel darin herumtollen."

Je näher ich jedoch Verdun kam, desto mulmiger wurde mir. Was, wenn mein Plan nicht aufging, man mich vielleicht sogar verhaftete und meine Tante und mein Onkel mich freikaufen mussten? Ich nahm mir vor, in der Stadt meine Verkleidung zu testen. Wenn ein gewöhnlicher Passant meine Fassade nicht durchschauen konnte, wieso sollte es ein Soldat im Rekrutierungsbüro? Oder der Schaffner, bei dem ich hoffte, umsonst mitfahren zu können?

Ich erreichte Verdun um halb neun. Die Stadt zählte etwa fünftausend Einwohner und war der größte Ort in der Nähe von Steinfeld und der einzige mit einer Bahnanbindung. Ich durchquerte den äußeren Ring der Stadt, dann den alten Burggraben, der vor fünfhundert Jahren zur Zeit der Ritter gebaut worden war, und schließlich fand ich mich auf dem rot gepflasterten Marktplatz mit der kleinen Kirche und seinem regen Treiben wieder. Hinter einem der Stände entdeckte ich die Bahnhofshalle, deren schwarzer Klinker alt und brüchig wirkte.

Ich setzte die Kapuze ab und sah mich um. Zeit für einen Test als Elmar Pelter.

„Entschuldigen Sie?", ich trat an eine ältere Dame heran, die gerade ein Pfund Kartoffeln in ihrem Einkaufskorb verstaute.

„Ja, bitte?", sie runzelte die Stirn. Ob sie sich wohl über mein seltsames Erscheinungsbild wunderte?

„Kennen Sie den Schaffner am Ort? Wissen Sie, ob er wohl einen Jungen umsonst mitnehmen würde, der sich der Kaiserlichen Armee anschließen möchte? Meine Eltern sind arm und ich kann den Zug nach Lergrund nicht zahlen."

Ihr Blick wurde hart. „Wieso würde sich ein Junge wie du der Armee anschließen wollen? Du bist kaum älter als zwölf."

„Ich bin sechzehn", klärte ich sie auf. Für zu jung gehalten zu werden, konnte meinem Vorhaben genauso schaden, wie nicht als Junge durchzugehen.

Die Frau kniff die Augen zusammen und machte einen Schritt auf mich zu. „Sechzehn, sagst du? Hmm. Ja, aus der Nähe betrachtet siehst du in der Tat älter aus als mein Enkel." Sie lächelte sanft und ich fühlte mich sofort ein bisschen sicherer. „Du hast sehr feminine Züge, daran mag es wohl auch liegen. Aber dennoch ein hübscher junger Mann."

„Vielen Dank", ich wurde ein bisschen rot.

„Vielleicht solltest du dir lieber eine ebenso hübsche Freundin suchen und deine Jugend genießen."

„Tut mir Leid, das kann ich nicht", sagte ich wahrheitsgemäß. „Meine Familie zählt auf mich."

Sie legte den Kopf leicht schief, als würde sie in meinem Gesicht nach einer Lüge suchen. „Nun, das musst du für dich selber entscheiden. Eine alte Frau wie ich kann dir nur einen Ratschlag geben."

„Für Ratschläge bin ich immer dankbar."

„Vergiss nie, wofür du kämpfst. Es ist leicht, so was zu vergessen, wenn sich die Dinge nicht in die gewünschte Richtung entwickeln. Den Grund für all sein Handeln zu kennen, ist manchmal das einzige, was einem in einer Krise helfen kann."

„Ich werde dran denken", versprach ich, obwohl eine solche Krise noch weit entfernt zu sein schien.

„Dann lass mich dir noch etwas sagen: Sprich mit Hannik Hurt im Schaffnerbüro. Ich weiß, dass er auch einmal gedient hat und die Truppe noch immer unterstützt. Sag ihm, dass Regina dein Vorhaben unterstützt und er wird sich bestimmt gut um dich kümmern."

Ich grinste breit über beide Ohren. „Haben Sie vielen, vielen Dank!"

„Das ist doch selbstverständlich. Vielleicht bist du es ja, der einmal mein Leben rettet. Übrigens, wie ist dein Name?"

„Elli...", ich stockte. „Elmar."

„Elmar. Ein netter Name", sie hielt mir eine kleine Tüte mit Bonbons hin. „Hier noch ein bisschen was für die Reise."

„Oh nein, das kann ich nicht annehmen!", lehnte ich ab.

„Höflich ist er auch. Aber ich bestehe drauf. Und du willst einer alten Dame doch keinen Wunsch abschlagen, oder?", zu einem großmütterlichen Lächeln konnte doch niemand nein sagen. Ich nahm die Bonbons und verabschiedete mich mit einem Händeschütteln.

Innerlich feierte ich meinen kleinen Sieg. Auch wenn sie definitiv meine feminine Seite bemerkt hatte, so hatte sie mir Elmar doch abgekauft. Und meine nächste Testperson wartete schon.

Hannik Hurt war in seinen Vierzigern, leicht übergewichtig und hatte eine Halbglatze. Versunken in ein Buch, saß er in seinem kleinen Schalterhäuschen und fieberte offensichtlich begeistert mit. Die Vergessene Stadt stand auf dem Einband. Ich klopfte an der Scheibe, um ihn auf mich aufmerksam zu machen.

„Ja?", fragte er mürrisch und legte den Roman beiseite.

„Herr Hurt?", ich hob die Hand zum Gruß. „Mir wurde gesagt, Sie könnten mir vielleicht eine kostenlose Überfahrt nach Lergrund ermöglichen."

„Und wer behauptet so was?", wollte er wissen.

„Regina", gab ich zurück und hoffte, dass die alte Dame in seinem Leben tatsächlich was zu sagen hatte.

„Regina?", seine Augen wurden größer.

„Ich möchte mich der Armee anschließen, habe aber nicht das Geld, um die Zugfahrkarte nach Lergrund zu zahlen", ich setzte ein verlegenes Lächeln auf, um ihm zu zeigen, dass ich ganz auf seine Hilfe angewiesen war.

„Nun, wenn du mit Regina gesprochen hast...", er kratzte sich grübelnd am Kinn. „Sie ist einfach zu gut zu jedem, auch wenn sie die Leute erst seit ein paar Minuten kennt."

„Den Eindruck hatte ich auch."

„Zum Glück für dich ist sie meine Mutter und wenn ich dich hier wieder wegschicke, werden die nächsten Monate hart für mich", er seufzte und griff nach einem Blatt Papier. „Ich stelle dir die Fahrkarte nach Lergrund aus. Und ich hoffe, dass du meine arme alte Mutter nicht belogen hast, weil du dir eine kostenlose Fahrt ergaunern wolltest."

„Keine Sorge, so ein schlechter Mensch bin ich nicht", beteuerte ich und feierte innerlich meine kleinen Erfolge. Die erste Etappe war geschafft.



Carcan - Die WinterkriegeWhere stories live. Discover now