Stumme Worte

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Aaros - Ich hockte auf dem Boden einer Lkw-Ladefläche und starrte stumm geradeaus.

Vor ein paar Stunden hatte ich meinen Kameraden tot im Schnee gefunden. Zunächst hatte ich es nicht glauben wollen. Ich hatte ihn geschüttelt, ihn angeschrien und ihn am Ende sogar geschlagen, doch Rito war für immer verstummt und taub. Ich weiß nicht, wie lange ich dort verharrte, bis mir jemand eine Hand auf die Schulter legte und mich von der Unfallstelle wegführte. Leute redeten mit mir, wollten mich aufheitern oder beruhigen. Ich bemerkte lächelnde Gesichter, die mir gut zusprachen, dann ihre besorgten Blicke, als ich nicht reagierte. Ich weinte nicht. Warum denn auch? Mein Kopf war leer.

Wir fuhren den Rest der Nacht, bis wir am frühen Morgen die Kaserne erreichten. Jemand geleitete mich von der Ladefläche und brachte mich zu einem Arzt, der mir einige Fragen stellte, die ich nicht beantwortete. Ich hörte Stimmen. Jemand war wütend auf mich, weil ich nichts sagen wollte. Irgendwann gaben sie auf. Man schickte mich auf meine Stube und ich gehorchte. Was sollte ich denn sonst tun?

Ich legte mich auf mein Bett und starrte auf die Matratze über mir. Er hatte dort geschlafen. Jedenfalls manchmal, wenn er nicht zu Qen ins Bett gekrochen war. Ich rief mir Ritos Gesicht ins Gedächtnis, wie es kopfüber von unten runter baumelte und er mich grinsend anstarrte. Doch das war vergangen. Irrte ich mich, oder verschwamm schon die Erinnerung an ihn? Wie lange würde es wohl dauern, bis ich sein Gesicht vergessen hatte?

Die Tür ging auf und wieder zu. Leute kamen herein und gingen wieder, manche setzten sich zu mir auf die Bettkante und erzählten mir irgendwas. Ein paar kannte ich: Feldwebel Stark, Unteroffizier Hauser, Qen. Viele andere waren mir unbekannt. War das ein Hauptmann oder ein Oberleutnant? Ich hatte alles vergessen.

Irgendwann entdeckte ich einen Teller Suppe, der auf unserem Tisch in der Stube stand. Daneben lag ein Laib Brot, viel mehr, als wir sonst bekamen. Wahrscheinlich eine Nettigkeit von irgendwem, doch ich war nicht interessiert. Auch Wasser reichte man mir. Schließlich versuchte man es mit Bier, aber ich bekam nichts runter. Alles wurde wieder weggetragen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde es dunkel. Meine Augen blieben trotzdem auf, an Schlaf konnte ich nicht denken. Keiner störte mich mehr, ich war allein mit meinem leeren Kopf. Sein Gesicht tauchte wieder vor meinem inneren Auge auf. Dieses Mal war es schärfer als zuvor, doch er lachte nicht mehr. Sein Mund war offen und sein Blick war leer. Ich versuchte, den Gedanken zu vertreiben, aber die Erinnerung schlich sich immer wieder ein.

Ich spürte wieder die Kälte und den Schnee. Das sanfte Mondlicht, das die Szenerie noch schauriger machte. Einer von Ritos Armen streckte sich in meine Richtung, deutete mir, zu ihm zu kommen. Ich gehorchte. Ich kniete mich in den Schnee, und war einfach an seiner Seite. Sein Mund formte stumme Worte, seine Augen wanderten ziellos umher. Ich konnte ihn nicht verstehen, doch ich wusste, dass er mir Vorwürfe machte. Ich hatte ihn sterben lassen und er hatte mir nicht verziehen.

Plötzlich griff seine Hand nach mir, umklammerte meinen Hals. Er zog den anderen Arm aus dem Schnee und bohrte mir seinen Finger ins Auge. Ich schrie vor Schmerzen, wollte zurückweichen, doch er ließ mich nicht gehen. Immer fester drückte er zu, jetzt auch mit der anderen Hand. Ich litt. Und doch war ich mir sicher, dass er mehr gelitten hatte.

Ich wollte ihm sagen, wie leid es mir tat, wollte ihn irgendwie besänftigen. Aber ich war so stumm wie er.

Sein Mund formte sich zu einem Grinsen. Er verstärkte seinen Griff. Fester. Fester. Fester. Und mein Genick brach.

Schweißgebadet schreckte ich hoch.

Ich war auf meiner Stube, lag auf meinem Bett. Ich war wohl eingeschlafen, ohne es zu merken. Was für ein Alptraum!

Carcan - Die WinterkriegeHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin