Naturgewalt

89 20 2
                                    

Aaros - Nachts durch den Schnee zu jagen hatte etwas abenteuerliches und ich kam mir vor wie der Held in einem meiner Romane. Im Vergleich zu diesen jedoch hatte ich eine Heidenangst, war unbewaffnet und wünschte mir, ich wäre an einem weit entfernten und sicheren Ort. Man hätte meinen können, nach der Begegnung mit der Kriegsbestie vor einigen Monaten dürfte ich mir bei so einem kleinen Spaziergang nicht mehr die Hosen vollscheißen, doch der Gefahr einmal ins Auge zu blicken, macht einen noch lange nicht zu einem mutigen Menschen.

Qen lief zielstrebig voran. Ich fragte mich, ob er einen Plan hatte, wenn er Elmar oder den Unbekannten einholte. Wahrscheinlich nicht, nahm ich an. Er konnte unseren Kameraden ja schlecht zusammenschlagen und ins Camp zurück zerren. Und wir wussten auch nicht, ob der Räuber irgendwelche Waffen am Mann hatte oder doch ein völlig harmloser Landstreicher war. Hier denkt aber auch keiner nach.

Nun, ich konnte den anderen kaum etwas vorwerfen, immerhin hatte ich mich auch recht schnell zu dieser Unternehmung überreden lassen.

Rito stapfte neben mir durch den Schnee. Er sah wirklich bedrückt aus, obwohl ihn niemand von uns für das Geschehene verantwortlich machte.

„Hey, Rito!", wandte ich mich zu ihm. „Wir finden Elmar und bringen ihn zurück."

Mit traurigen Augen sah der Junge mich an. „Und was, wenn nicht? Wenn ihm was passiert?"

„Keine Sorge, Elmar ist taff, dem passiert nichts", ich lächelte aufmunternd.

„Wenn ich doch nur nicht eingeschlafen wäre. Dann hätte der Kerl sich vielleicht gar nicht getraut, etwas zu klauen."

„Ist dir irgendwas an ihm aufgefallen? Etwas, das uns helfen könnte? Hatte er Waffen oder so?", erkundigte ich mich.

„Ich weiß nicht...", murmelte Rito und senkte seinen Blick. Diese Frage hätte ich mir wohl besser verkniffen.

„Das macht doch nichts."

„Du, Aaros, ich...", weiter kam er nicht, denn er wurde von Qen unterbrochen.

„Leute!", er zeigte vor sich. Wir standen vor einem Abhang, der uns direkt runter in eine Schlucht führte, die von hohen Bergen umgeben war. Von hier hatten wir einen grandiosen Ausblick auf das umliegende Land und das vom Schnee reflektierte Mondlicht trug noch zusätzlich dazu bei, dass wir die beiden Personen in fünfhundert Metern Entfernung sofort ausmachen konnten. „Da sind sie."

Der Unbekannte war nun kaum noch zwanzig Meter vor Elmar und dieser schien die Distanz zu ihm immer weiter zu überbrücken.

Ich nickte Qen zu und wir schlitterten den Hang hinab. Je weiter wir in die Schlucht vorstießen, desto höher ragten die Klippen um uns hinauf und schon bald waren wir von den Felsen umgeben. Ich schluckte. Hier haben wir keine Möglichkeit, zu fliehen.

Da wir uns nun nicht mehr auf einer freien Fläche befanden, verloren wir auch schnell den Überblick und nach etwa hundert Metern teilte sich der Weg auf.

„Wir müssen uns trennen", entschied Qen.

„Was?", sagte Rito verängstigt. „Nein!"

„Er hat Recht", sagte ich zu Rito. „Wir wissen nicht, in welche Richtung die beiden gelaufen sind. Wenn wir uns für die falsche entscheiden, holen wir sie vielleicht nicht mehr ein."

„Aaros, du gehst den linken Weg. Rito und ich, wir gehen nach rechts."

Rito schien das ganze noch immer nicht so ganz geheuer zu sein, doch schließlich gab er nach. „Na gut. Aber pass auf dich auf, Aari."

„Klar", ich grinste noch einmal so überzeugend, wie ich konnte, und rannte dann los. Unser tägliches Training fruchtete, ich war kaum außer Atem und meine Beine bewegten sich wie von selbst.

Als ich mich jedoch so ganz alleine durch den schmalen Felskorridor bewegte, bekam ich schon gehörig Muffensausen. Nun dachte ich nicht mehr nur an den Unbekannten, sondern auch die ganzen anderen Gefahren, die hier in den Bergen lauerten. Ein Hirsch konnte einen mit seinem Geweih einfach aufspießen, ein Fels von oben konnte mich leicht zertrümmern und was die Zähne mit der Wölfe mit mir machen konnten, das wollte ich mir gar nicht ausmalen.

In dieser schmalen Gasse heulte der Wind viel stärker, da er von den Wänden kanalisiert wurde. Zwar schneite es nicht, aber der die stürmischen Böen allein reichten aus, um mein Gesicht taub werden zu lassen. Ich hätte nicht sagen können, wie lange ich dem Pfad folgte. Nach einiger Zeit jedoch stieß ich auf eine massive Gerölllawine, die mir ein Weiterkommen verwehrte. Na toll, dachte ich. Jetzt darfst du auch noch klettern.

Gerade wollte ich die Lawine erklimmen, da bebte der Boden. Ich suchte Halt an einem nahen Felsen und forschte nach der Ursache, konnte jedoch zunächst nichts erkennen. Dann sah ich nach oben und erblickte die Schneemassen, die auf mich zu stoben. Eine Lawine! Eine richtige Lawine!

Nun war nicht mehr die Zeit, an Ort und Stelle zu verharren. Ich nahm die Beine in die Hand und rannte auf das Geröll direkt vor mir zu. Der Schnee kam von den Klippen, die die Schlucht eingrenzten, wenn ich also der Schlucht entkommen konnte, konnte ich vielleicht auch dem Schnee entkommen. Mit meinen tauben Fingern klammerte ich mich an dem nächstbesten Geröllbrocken fest und zog mich nach oben. Der bebende Untergrund machte mir das Klettern nicht gerade leichter, doch irgendwie hielt ich mich aufrecht. Der Geröllhang war zum Glück nicht allzu steil, so dass ich ihn unter Anstrengung ganz gut erklimmen konnte. Ab und zu brach jedoch etwas von dem Gestein unter meinen Stiefeln weg und ich rutschte wieder ein Stückchen nach unten.

Das wäre in einer anderen Situation nicht so schlimm gewesen, doch der Schneepegel in der Schlucht stieg immer weiter und weiter und hatte schon fast die Sohle meiner Stiefel erreicht. Wenn die Masse mich einmal gepackt hatte, würde sie mich nicht mehr loslassen und erbarmungslos unter sich begraben. Die Angst, die dieser Gedanke in mir auslöste, gab mir neue Kraft und ich zog mich nach oben. Schnaubend, schniefend und schluchzend gelangte ich immer höher, die weiße Gefahr im Nacken. Los, Aaros! Nur noch ein bisschen!

Ich wuchtete mich über den Rand der Klippe. Der Schnee hatte die Schlucht inzwischen ganz aufgefüllt und er prasselte noch immer mit hoher Geschwindigkeit herab. Ich befand mich auf einem schmalen Grat, der die Schlucht, durch die ich gegangen war, von der trennte, der Qen und Rito gefolgt waren. Hier oben wägte ich mich vorerst in Sicherheit also nahm ich mir einen Moment Zeit, um die Lage zu sondieren. Die Lawine war von einem hohen Berg gekommen, der majestätisch über den Schluchten thronte. Ich atmete erleichtert auf. Die zweite Schlucht war nicht von ihr betroffen gewesen. Zum Glück! Dann rennen die anderen bestimmt immer noch hinter Elmar und dem Unbekannten her.

Da mein Weg eine Sackgasse war, mussten die Verfolgten auch den Pfad gewählt haben, auf dem sich Qen und Aaros befanden. Ich beschloss, auf dem Grat weiter zu wandern und nach einer Möglichkeit zu suchen, auf der anderen Seite sicher nach unten zu kommen. Langsam kamen die Schneemassen zum Halt und das Beben wurde schwächer, was mir half, die Balance zu halten. Vorsichtig, aber nicht zu langsam, ging ich tiefer ins Gebirge hinein, auf der Suche nach meinen Kameraden.


Carcan - Die WinterkriegeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt