Elli

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Es war der kälteste Winter in Carcan seit fünfzig Jahren. Dieser Meinung waren zumindest die Alten im Dorf, die schon zuvor so manch einen Winter erlebt hatten. Für mich war es der sechzehnte Winter in meinem Leben und was mich betraf, so konnte ich den Alten nur zustimmen, dass es dieses Jahr wirklich verdammt kalt war.

Ich wohnte zusammen mit meiner Tante, meinem Onkel und meiner kleinen Cousine am Rand des Dorfes Steinfeld, das tief in den Carcaner Bergen lag. Doch nicht mehr lange, denn morgen würde ich diesen Ort verlassen. Nachdem meine Cousine am Abend zu Bett gegangen war, nahm ich deshalb ihre Eltern beiseite, um ihnen meine Entscheidung mitzuteilen.

„Tante Agi, Onkel Gerd", begann ich, ohne den beiden in die Augen zu sehen. „Ich werde mich morgen nach Lergrund aufmachen."

„Nach Lergrund?", fragte Gerd.

„Was willst du denn da?", wollte meine Tante wissen. Die beiden waren wirklich die nettesten Menschen auf der Welt, sie hatten mich aufgenommen, als meine Eltern vor zehn Jahren bei einem Unfall in der Mine gestorben waren, obwohl sie selbst für sich kaum genug hatten. Als mit der Geburt meiner Cousine Ida dann noch ein weiteres Maul zu stopfen war, hatten sie mich trotzdem nicht weggeschickt und ich konnte noch so vehement protestieren als die beiden immer mehr abmagerten und sich weigerten, die Hälfte meiner Portion anzunehmen.

Deshalb war jetzt die Zeit gekommen, ihnen diese Güte zurückzuzahlen.

„Ich werde der Armee beitreten.", diesen Entschluss hatte ich bereits vor einigen Tagen gefällt, ich hatte mich nur noch nicht dazu durchringen können, es ihnen mitzuteilen.

„Du willst was?!", Gerd sprang auf. „Bist du wahnsinnig?!"

„Elli, Liebes, das meinst du doch nicht ernst!", meine Tante hatte Tränen in den Augen, sie wusste, dass es kein Scherz war.

„Es ist die einzige Möglichkeit, wie wir alle diesen Winter überstehen können! Bei der Armee bekomme ich freie Verpflegung und ich verdiene sogar ein bisschen Geld, das ich euch schicken kann! Dann müsst ihr beide nicht mehr hungern und ihr könnt euch Brennholz kaufen, damit Ida nicht frieren muss!"

Gerd und Agi sahen sich an. Sie wussten, dass meine Worte Sinn machten, doch sie wollten mich nicht gehen lassen.

„Wie willst du das überhaupt machen, Elli? Du bist ein Mädchen! Du kannst nicht der Armee beitreten!", merkte Gerd an.

„Das hab ich alles schon durchdacht. Ich bin nicht kleiner als der durchschnittliche Junge in meinem Alter und wenn ich meine Brüste abschnüre und mir weite Kleidung anziehe, bemerkt niemand was!"

„Elli...", meine Tante konnte es noch immer nicht fassen.

„Gerade jetzt, wo Ris und Fer Alta sich verbündet haben, suchen sie händeringend nach neuen Rekruten...", weiter kam ich nicht.

„Ganz genau!", fuhr mich Gerd an. „Neue Rekruten, die sie an die Front stellen können, um ihre Offiziere zu schützen! Kanonenfutter!"

„Noch ist der Krieg nicht ausgebrochen!", brüllte ich zurück. „Wenn alles gut läuft, wird er das auch nicht bis ich meine zwei Jahre abgearbeitet hab. Dann bin ich wieder hier bei euch..."

„Und wenn es nicht gut läuft?", auch Gerd hatte nun Tränen in den Augen.

„Dann bin ich hier auch nicht sicher. So kann ich uns zumindest beschützen."

„Wir schaffen das auch so", versuchte Agi mich zu besänftigen. „Bitte, bitte, Elli, denk doch nur noch einmal drüber nach! Ida würde dich auch vermissen."

„Das weiß ich doch...", ich senkte meinen Kopf. „Aber mich zu vermissen ist nur halb so schlimm als zu verhungern oder zu erfrieren. Alle sind sich einig, dass dieser Winter scheußlich wird und er hat gerade erst angefangen. Wie lange, glaubt ihr, können wir durchhalten?"

Carcan - Die WinterkriegeDonde viven las historias. Descúbrelo ahora