Mütter

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Qen - Harland sah genauso aus, wie ich es verlassen hatte. Arbeitslose Jugendliche lungerten in den Gassen rum, Betrunkene pöbelten lauthals und Kinder, die als Boten arbeiteten, um das mickrige Einkommen ihrer Eltern aufzustocken, flitzen zwischen den Beinen der Erwachsenen umher. Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber ich war hier mit meiner piekfeinen Uniform fehl am Platz.

Ein paar Jungs, die ich mit meinem geschulten Auge sofort als Diebe entlarvte, beäugten mich interessiert. Kein Zweifel, sie würden versuchen, mich auszurauben. Sollten sie nur kommen. Ich hatte keine Angst.

Wovor ich mich jedoch fürchtete, war auf alte Bekannte zu treffen. In meiner Zeit auf der Straße hatte ich so einige zweifelhafte Bekanntschaften gemacht, die nicht so gut auf mich zu sprechen waren.

Harlands Marktplatz platzte aus allen Nähten. So viele Leute verschiedenen Ursprungs auf einem Haufen hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Schnell hatte ich diejenigen unter ihnen ausgemacht, denen ich ohne Mühe das Portmonee aus der Tasche ziehen konnte. Ich schmunzelte unfreiwillig. Es ist einfach zu leicht. Schnell vertrieb ich die unlauteren Gedanken und quetschte mich an den Leuten vorbei. Ich erntete Kopfschütteln und die ein oder andere Beleidigung. Staat und Militär waren hier wirklich nicht beliebt.

Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter. Wie ich vermutet hatte, folgte die Diebesbande mir. Sie stellten sich dabei nicht sonderlich geschickt an, selbst die gemeine Bevölkerung hatte sie schon als Kriminelle ausgemacht und wich ihnen aus. Ich hielt an einem Stand für Gruß- und Glückwunschkarten und tat so, als würde ich das Angebot studieren. Schneller als ich überhaupt eine der Karten näher betrachten konnte, streckte der erste Langfinger seine Flossen nach mir aus. Geschickt packte ich ihn am Handgelenk. „Das würde ich lassen", empfahl ich dem Jungen, dessen Gesichtsausdruck eine Mischung aus Überraschung und Wut war.

„Was?!", entfuhr es ihm. „Wie?!"

„Ich hab jahrelang das selbe gemacht wie du. Glaub mir, ich erkenne einen Kleinganoven wie dich auf tausend Meter."

„Tse!", fluchte er und spuckte auf den Boden.

„Du hast kein Talent. Du solltest mit dem Klauen aufhören, solange du noch kannst." Jetzt klingst du ja richtig verantwortungsbewusst!

„Ich muss von irgendwas leben!", beklagte der Junge sich. „Was soll ich denn essen?!"

„Such dir Arbeit", schlug ich vor. „Deinen Freund, der gerade seine Finger in meine Manteltasche schiebt, kannst du gleich mitnehmen."

Mit der freien Hand griff ich das Handgelenk des zweiten Jungen. Er jaulte auf.

„Wenn du wirklich mal einer von uns warst, dann lass uns gehen. Ehre unter Dieben und so!", flehte der erste Dieb. Sein Kumpel nickte eifrig.

Ehre unter Dieben? Dass ich nicht lache. Wenn ich an Ditter und seine Schläger zurückdachte, schien mir das ein ganz absurdes Konzept. „Von mir aus", sagte ich trotzdem. So nobel war ich dann doch nicht, dass ich diese armen Kerle an die Polizei verpfiff. Wenn sie sich weiter so mies anstellten, würden sie früher oder später eh in den Fängen von Harriet Sturm oder einem anderen Ordnungshüter landen. Sie waren ja wirklich ein wenig mager...

Ich ließ sie los und die Jungen rannten schnell davon.

„Sie sind wirklich eine Plage", murmelte der runzelige Alte vom Kartenstand. „Hoffentlich wird ihnen das eine Lehre sein."

„Ja, hoffentlich", ich sah ihnen nach.

„Sind Sie auf Familienheimfahrt? Möchten Sie vielleicht eine Karte für die Familie kaufen? Oder für Ihr Mädchen?"

Carcan - Die WinterkriegeWhere stories live. Discover now