Das Provinzmädchen und die Alchemie

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Elli - Im ersten Moment hatte ich das Gefühl, von der Stadt erschlagen zu werden. Als ich nach ein paar Stunden Fahrt in Lergrund aus dem Zug stieg, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Stadt war so viel größer, so viel monumentaler als alles, was ich kannte, dass ich mich für mehrere Minuten fragte, ob dies wirklich real war oder doch nur ein Traum. Bisher hatte ich Verdun immer für ein Erlebnis gehalten, doch im Gegensatz zu einer echten Großstadt, verblasste auch dieser Ort zu einem kleinen Dorf. Wie dämlich ich aussehen musste, erkannte ich erst als die Leute kichernd an mir vorbeigingen und einige besonders ungehobelte sogar mit dem Finger auf mich zeigten.

Beschämt über mein eigenes Verhalten senkte ich den Kopf, doch nicht ohne zuvor noch einen heimlichen Blick auf die gigantische Kathedrale zu werfen, deren Türme stolz in den Himmel ragten und sogar an den Wolken zu kratzen schienen. Eines Tages kletter ich darauf, nahm ich mir fest vor und steuerte dann auf die Polizeiwache zu, die sich direkt neben dem Bahnhofsgebäude befand.

Ich erkundigte mich bei einem griesgrämigen Wachtmeister nach dem Rekrutierungsbüro, der mir, nachdem er meine Ambitionen vernommen hatte, bereitwillig Auskunft gab.

„Wir brauchen mutige junge Menschen wie dich", nickte er und sein breiter Schnauzer wippte auf und ab. „Wo sagtest du, kommst du her?"

„Aus Steingrund, in der Nähe von Verdun."

Er ließ ein Walrossschnauben vernehmen. „Dort gab es bis vor ein paar Jahren auch noch einen Heeresvertreter. Doch die meisten Jungen heutzutage hängen lieber an den Rockzipfeln junger Mädchen, stimmt's?"

„Auf die meisten trifft das wohl zu", grinste ich. Dass ich vor einem Tag noch selbst so ein Rockzipfel gewesen war, verschwieg ich ihm lieber.

Er fertigte mir eine einfache Wegskizze an, schenkte mir noch eine Brötchenhälfte mit Leberkäse und wünschte mir eine erfolgreiche Zukunft.

Gestärkt und motiviert bog ich in die breite Ladenstraße ein, die den geneigten Bürger mit allerlei Angeboten zu locken versuchten. Über meinem Kopf hingen zahlreiche blau-goldene Wimpel und große Banner mit einem Kunstdruck von Adalbert II, dem amtierenden Kaiser von Carcan. Er musste mittlerweile über siebzig sein, doch auf dem Banner waren kaum Falten zu sehen. Markant waren seine stahlblauen Augen und seine gut gestutzte Schifferkrause sowie sein volles weißes Haar. Wie jeder Kaiser vor ihm auch trug Adalbert seine Carcanische Uniform allerdings mit mehr Ehrenkordeln und Orden als ein normaler Soldat in seiner Amtszeit je ergattern konnte. Trotz seiner Darstellung als alter Kriegsherr war er für seine gutmütige Art und seine Investitionen in das Bildungswesen bekannt geworden, die ihm den inoffiziellen Titel Friedenskaiser eingebracht hatten. Dass er aufgrund der wachsenden Spannungen mit Ris und Fer Alta mehr Kriege hatte führen müssen als die meisten seiner Vorgänger, vergaßen die Leute schnell dabei.

„Er kommt nächste Woche her!"

„Was?", überrascht wandte ich mich nach rechts, von wo ich die Stimme vernommen hatte.

„Der Kaiser", teilte mir ein Mann im mittleren Alter mit einer schiefen Nase und noch schieferen Zähnen mit. „Er besucht nächste Woche Lergrund."

„Oh", ich sah unwillkürlich hoch zu seinem Abbild. „Das wusste ich nicht."

„Dann bist du wohl nicht von hier, was, Junge?"

Ich lächelte. „Das bin ich tatsächlich nicht. Und eigentlich wollte ich auch nicht so lange bleiben."

„Eine Schande. Es gibt ein großes Fest und er wird eine Rede halten. Ich habe mal eine seiner Ansprachen in Ketho erlebt, der Mann weiß wirklich, wie man die Leute in seinen Bann zieht. Wenn du mal die Möglichkeit bekommst, solltest du dir definitiv eine von ihm anhören."

Carcan - Die WinterkriegeWhere stories live. Discover now