Qen

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Die Straßen von Harland waren so dreckig wie kaum sonst ein Ort auf dieser Welt. Das nahm ich zumindest an, denn bisher war ich über die Stadtgrenzen nie hinaus gekommen.

Harland war der ärmste und hässlichste Stadtteil von Ketho, der Hauptstadt von Carcan, und zugleich mein Zuhause. Hier lebten hauptsächlich Kleinkriminelle, Prostituierte mit ihren ungewollten Kinder, Drogendealer und all jene, denen das Schicksal ihr ehemals schönes Leben genommen hatte. Ich hatte nur bedingt Mitleid mit ihnen, mein eigenes Leben war nämlich kaum einen Deut besser.

Gerade verfolgte ich mein nächstes Opfer von einem der Häuserdächer, die aus billigem Wellblech notdürftig zusammen gezimmert wurden. Man konnte ja viel über die Einwohner von Harland sagen, aber nicht, dass sie nicht kreativ waren.

Die Frau, die ich gerade verfolgte, war definitiv keine Einwohnerin. Das hatte ich mit einem Blick erkannt. Sie trug ein Kleid vom Schneider und keines der selbstgenähten, die man hier nur allzu häufig sah. Ihre Frisur war gut gemacht und ihre künstlichen schwarzen Locken waren frisch gedreht. Ich hatte keine Ahnung, was sie hier zu suchen hatte und es interessierte mich auch nicht wirklich, was mich allerdings interessierte, war die Handtasche, die sie unter ihrem Arm trug. Oder vielmehr ihr Inhalt.

Ich schwang mich auf den grauen Asphalt und folgte ihr unauffällig. Die Frau jedoch schien sich kaum für ihre Umgebung zu interessieren und so war es für mich ein leichtes, an ihr dranzubleiben. Lässig stülpte ich mir die Kapuze über und steckte die Hände in meine Hosentaschen. Dort tastete ich nach meinem Blasrohr, das mit Betäubungspfeilen gespickt war, und mit dem ich schon so manch einen meiner Kunden, wie ich meine Opfer gerne nannte, ausgeschaltet hatte.

Auf offener Straße konnte ich sie natürlich nicht ins Land der Träume schicken, dafür waren selbst in Harland zu viele Leute unterwegs. Aber wenn sie in eine der schmaleren Gassen einbog, dann hatte ich vielleicht eine Chance. Ich hoffte nur, dass dies bald der Fall war. Die Frau fiel hier auf wie ein bunter Hund und ich war bei weitem nicht der einzige, der ihr die ein oder andere Mark abluchsen wollte. Und wenn ich so an all die anderen Straßenräuber im Viertel dachte, kam sie mit meinem Blasrohr noch ziemlich gut dabei weg.

Links und rechts von uns ragten graue Blöcke in den Himmel, die im Rahmen der Urbanisierung eilig gezimmert worden waren, um den hinzugezogenen Arbeitern zumindest irgendein Dach über dem Kopf zu bieten. Auch meine Eltern waren in diesem Rahmen aus dem fernöstlichen Land Jiay nach Carcan gekommen. Ohne die Sprache zu sprechen hatten sie versucht, hier ein neues Leben aufzubauen, wurden jedoch aufgrund ihres exotischen Aussehens von vielen Einheimischen gemieden und konnten nur schlechte Jobs ergattern. Dann wurde meine Mutter schwanger und so sehr die beiden sich auch auf ihren Nachwuchs freuen wollten, so sehr wurden sie doch jeden Morgen mit einem sauren Beigeschmack im Mund wach. Doch für mich waren sie tapfer. Sie kämpften um jede Anstellung und legten jeden Pfennig beiseite und als dann endlich meine Zeit gekommen war, hatten sie genug gespart, um einen der grauen Blöcke zu beziehen und mir wenigstens eine kleine Zukunftsperspektive zu bieten. Und das wollten sie mir mit auf den Weg geben: Auf Jiay bedeutet mein Name Qen Hoffnung.

Aber die Welt ist grausam.

Als ich fünf war, wurde mein Vater schwer krank und schon bald konnten wir die Arztrechnungen und Medikamente nicht mehr zahlen, so dass wir ihm am Ende nur noch ein paar freundliche Worte mit auf den Weg geben konnten, die aber weder seine noch unsere Schmerzen minderten.

Nun war ich also mit meiner Mutter allein. Sie tat wirklich alles, um uns zu versorgen, doch ihr alleiniges Einkommen reichte kaum für uns beide. Da sie dennoch darauf bestand, dass ich die Schule besuchte als ich mich nach Arbeit in einer der Fabriken der Stadt umsehen wollte, konnte ich nichts zu unserem Einkommen beisteuern. Bis ich auf Ditter traf.

Ditter war der Anführer einer Jugendbande in Harland und ich war schon bei unserem ersten Treffen von ihm beeindruckt. Er sprang wie eine Katze von Dach zu Dach, war lang und agil und konnte klauen wie kein Zweiter. Er mochte mich. Er mochte diesen zehnjährigen Jungen mit den schwarzen Haaren und den Mandelaugen, den er vor sich sah und er beschloss, mich unter seine Fittiche zu nehmen. Begierig lernte ich alle seine Tricks und war bald sogar besser als er. Man konnte es nicht anders sagen, ich war ein Naturtalent.

Doch wenn der Lehrling den Meister übertrifft, kann es für einen von beiden nur schlecht enden. Und diesem Fall war ich es, der den Kürzeren zog. Als Ditter mich nicht mehr kontrollieren konnte, scharrte er seine brutalsten Schläger um sich und lauerte mir nachts auf.

„Du glaubst, du bist besser als ich, Pisser? Denkst wohl, du kannst meine Bande übernehmen, oder was?", seine Faust traf mein Gesicht. „Dann lass mich dir eins sagen: Wenn ich deine beschissene Fresse noch einmal hier sehe, reiß ich dir die Augen raus, ist das klar?!"

Ich bekam keine Chance, zu antworten. Seine Hiebe und Tritte und die seiner Kumpanen trafen mich ohne Pause. Erst als ich keuchend und blutend auf dem Boden lag, ließen sie von mir ab.

Mühsam kam ich auf die Beine, mein ganzer Körper tat mir weh, doch ich hielt mich irgendwie aufrecht und schaffte es nach Hause.

Damals war ich zwölf. Von da an schmiedete ich Pläne, wie ich es Ditter und seinen Leuten heimzahlen konnte. Ich trainierte hart und meine Muskeln wuchsen von Jahr zu Jahr. Zudem wurde ich kundig im Umgang mir Waffen, egal ob Dolch oder Karabiner, ich übte mich in allem, was ich in die Hände bekam. Doch meine Rache sollte ich nie bekommen. Kaum zwei Jahre nach jenem schicksalshaften Tag wurde die Leiche von Ditter in einer Rinne gefunden. Er hatte sich mit den Stadtwachen angelegt und die hatten keine Gnade gezeigt. Einfach so war mein Erzfeind verschwunden und ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Eines stand aber fest: Harland war nun mein Revier. Harland war mein Spielplatz und ich nahm mir, was ich wollte und von wem ich wollte.

Meine Mutter ahnte von all dem nichts. Sie arbeitete weiterhin hart, lernte Carcanisch und konnte irgendwann gut für uns beide sorgen. Ich hätte aus meinem Geschäft aussteigen können, aber ich wollte nicht. Das Leben als ungesehener Schatten von Harland wollte ich nicht aufgeben, dafür hatte ich zu viel Spaß. Solange mich niemand erwischte, war alles gut und meine Finger waren so flink, dass ich mir dies bezüglich keine Sorgen machte. Ich war sechzehn und der König von Harland.

Und so verfolgte ich weiter die Frau in ihrem geschneiderten Kleid. Für sie war ich noch immer vollkommen uninteressant, überhaupt schien das Viertel ihr keine Angst zu machen. Dann endlich geschah das, auf das ich schon so lange gehofft hatte: Sie bog in eine enge fensterlose Gasse ein.

Sofort beschleunigte ich meinen Schritt. Binnen Sekunden war ich an ihr dran, ich zog mein Blasrohr hervor und legte es gerade an die Lippen als sie sich plötzlich umdrehte und mich mit einem schelmischen Grinsen ansah. Augenblicklich wusste ich, dass es sich um eine Falle handelte. Ich fuhr herum, wollte fliehen, doch als mich von ihr abwandte, traf mich ein Schlagstock der Stadtwache hart an der Schläfe.

Mit einem schwachen „Uh" landete ich auf dem Boden und konnte gerade noch einen Blick auf die gut polierten Stiefel meines Angreifers werfen, bevor ich in Ohnmacht fiel.



Carcan - Die WinterkriegeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt