Ein hungriger Geist

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Aaros - So viel Freizeit hatte ich seit langem nicht mehr. Endlich konnte ich mich mal wieder einer Beschäftigung widmen, die ich in den letzten Monaten vernachlässigt hatte: Dem Lesen.

Ich führte mir zuerst mein Lieblingsbuch zu Gemüte, dann nahm ich mir die kaserneneigene Bibliothek vor. Aufgrund der ansässigen Alchemisten war die Auswahl im Gegensatz zu anderen Liegenschaften besonders groß. Als ich das erste Mal den geräumigen Saal betrat, war ich beeindruckt von den vielen verschiedenen Büchern, die sorgsam auf antike Regale verteilt waren. Mit dieser Seite des Militärs konnte ich mich anfreunden.

Hinter einem kleinen Empfangstresen hockte eine alte Frau um die siebzig, die gerade in einem gigantischen Buch blätterte und mich mit ihrem freundlichen Lächeln sofort für sich einnahm. „Guten Tag, junger Mann."

„Guten Tag", antwortete ich höflich.

„Du bist zum ersten Mal hier, oder? Ich bin Gertrud. Wenn du Fragen hast, kannst du dich gerne an mich wenden, ansonsten kannst du dich hier in Ruhe umsehen."

„Danke. Vielleicht werde ich darauf zurückkommen", ich wollte die Bücherei zunächst auf eigene Faust erkunden. Ich hatte keine konkrete Vorstellung davon, was ich lesen wollte, also hieß es zunächst einmal ziellos stöbern.

Das Regal, das mir am nächsten war, beherbergte Neuerscheinungen und besonders beliebte Romane. Viele von den Titeln kamen mir bekannt vor, einige hatte ich sogar selber schon gelesen. Ich nahm ein Buch mit rotem Einband aus dem Regal, auf das mit goldener Schrift Die Tränen der ewigen Prinzessin geprägt war. Der Beschreibung nach zu urteilen, handelte es sich um einen Liebesroman, der an ältere Frauen gerichtet war. Was hatte der in einer Kasernenbibliothek zu suchen?

Hinter mir hörte ich Gertrud kichern. „Du wärst überrascht, wie viele Soldaten nach guten Liebesgeschichten verlangen."

„Wirklich?", ich machte große Augen. Ich konnte mich nicht entsinnen, jemals in meinem Leben eine solche Schnulze gelesen zu haben.

Die Tränen der ewigen Prinzessin kann ich nur empfehlen. Ich habe es selbst in einer einzigen Nacht verschlungen."

Da ich kein plötzliches Verlangen verspürte, das Buch zu lesen, stellte ich es erst einmal beiseite und sah mich weiter um. Ich entdeckte Klassiker aus vergangenen Zeiten, daneben gesellschaftskritische Romane, Märchen, Kriminalgeschichten und selbst ein paar Kinderbücher. Sogar Die Große Freiheit fand ich hier. Allerdings war dieses Exemplar wesentlich weniger abgegriffen als meines.

Im nächsten Gang warteten militärhistorische Bücher auf mich. Über den Werdegang von Carcans Heer hatte ich schon zu Genüge von meinem Vater gehört und viele der Bände erkannte ich aus unserer hauseigenen Bibliothek wieder: Die Evolution der Alchemie, Luftschiffe und ihr Nutzen in der modernen Kriegsführung, Carcans Zukunft auf dem Schlachtfeld, Grünes Feuer: Ein alchemistisches Wunderwerk.

Vielleicht sollte ich mich mal damit beschäftigen, überlegte ich. Immerhin bin ich jetzt selbst beim Militär.

Für den Moment wollte ich aber nichts davon wissen und so setzte ich meinen Streifzug fort.

Ich erreichte die Ecke mit Lehrbüchern zu den verschiedensten Themen. Zu Biologie, Physik, Chemie und Mathematik gab es die größte Auswahl, aber auch Philosophie, Sozialwissenschaften, Politik, Psychologie, Religion, Kunst und Musik waren vertreten. Zusätzlich entdeckte ich ein paar Lexika und Wörterbücher für Carcanisch, das Risische, Gille, Inotisch und Tefilisch, das in Fer Alta gesprochen wurde. In der Schule hatte ich zwei Jahre lang Tefilischunterricht genossen und konnte mich in der Sprache ganz gut ausdrücken.

„Wenn du einen Menschen verstehen willst, lerne zunächst seine Sprache", hatte mein Lehrer immer gesagt.

Ich nahm Maycumbers Risisches Wörterbuch aus dem Regal und schlug eine beliebige Seite auf. Risisch war eine harte Sprache mit vielen Zischlauten, die auch gerne mal auf Vokale verzichtete und dadurch abgehackt und unmelodisch klang. Ich hatte gehört, dass sie für Carcaner allerdings leicht zu lernen war, da die Grammatik der beiden Sprachen sich sehr ähnlich war.

Carcan - Die WinterkriegeWhere stories live. Discover now