Hügel der Schmach

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Qen - Harriet Sturm brachte mich zum Zug, nur um wirklich sicherzustellen, dass ich auch einsteigen würde. Zwar versicherte ich ihr mehrmals, dass es reichlich dämlich wäre, jetzt noch abzuhauen, aber davon wollte sie nichts hören. Wir mussten schon einen seltsamen Anblick abgeben, die hübsche Polizistin und der dreckige Straßenjunge. Doch wenn es sie störte, mit mir beobachtet zu werden, so ließ sie es sich nicht anmerken.

„Warum haben Sie mir gestern noch diesen Umschlag hingelegt?", fragte ich sie, um die Zeit zu überbrücken.

Sie lächelte so süffisant wie immer. „Ich dachte, das findest du selbst heraus."

„Bei solchen Spielchen mach ich nicht mit", sagte ich abweisend. „Das ist mir zu blöd. Entweder Sie sagen es mir, oder halt nicht."

Sturm schmollte. „Du bist langweilig. Hast du keinen Humor?"

Nicht wenn ich kurz davor bin, in den Krieg zu ziehen, dachte ich mürrisch und blickte stur geradeaus. Es hatte keinen Sinn mit dieser Frau zu diskutieren, sie verstand mich ja doch nicht. Für die nächsten Minuten schwiegen wir uns also an bis endlich der Zug am Gleis eintraf.

Dankbar packte ich meine Tasche und lief zu einer der Türen, die sich langsam öffneten. Gerade als ich einsteigen wollte, packte mich die Polizistin noch einmal am Arm.

„So leicht kommst du mir nicht davon, Qen Shendong. Du bist mir noch eine Antwort schuldig. Was haben die Carcanischen Tugenden mit dir zu tun?"

„Und ich hab Ihnen schon gesagt, dass ich da nicht mitspiele. Geben Sie mir Ihre Adresse, dann schreib ich Ihnen einen Brief, wenn ich es mir anders überlegt hab", gab ich giftig zurück.

„Wie du meinst", sie kritzelte etwas auf einen Zettel. „Mal sehen, ob ich noch immer dort bin, wenn der Krieg ausbricht."

Ungläubig starrte ich auf den Zettel. Sie hatte mir tatsächlich ihre Adresse gegeben!

„Woher wollen Sie wissen, dass ich keinen Unfug damit anstelle?", fragte ich sie.

„Das weiß ich nicht. Ich kann nur an dich glauben."

So langsam fragte ich mich, was mit dieser Frau nicht stimmte. Zuerst verprügelte sie mich mit einem Schlagstock, dann gab sie mir eine zweite Chance und jetzt sagte sie, dass sie an mich glaubte? Wenn sie doppeldeutige Nachrichten aussenden wollte, dann hatte sie das allerdings mit Bravour geschafft.

„Na, dann machen Sie das", sagte ich schnippisch, denn ich hatte genug von ihrem verwirrenden Charakter und ihren dämlichen Spielchen.

Zu meiner Überraschung schwand Sturms Lächeln nicht im Geringsten. Es wurde sogar noch breiter, als diente das alles hier zu ihrer Unterhaltung, als wäre mein Leben nur eine Episode in einem Groschenroman. Wenn sie keine Frau gewesen wäre, hätte ich ihr an dieser Stelle eine reingehauen, denn ich hasste falsche Schlangen wie sie.

„Gut, du hast sie also doch", bemerkte Sturm. Schon wieder eine kryptische Bemerkung. Es war wohl am besten, wenn ich sie einfach ignorierte. Ich wandte mich wieder dem Zug zu, entschlossen, mich nicht mehr umzudrehen.

„Ich wünsche Ihnen noch ein angenehmes Leben, Frau Sturm."

„Dir auch, Herr Shendong", ich konnte sie hinter mir atmen hören, während ich die Stahlstufen erklomm. Als ich schon im Gang stand, fand sie noch einmal ihre Stimme. „Die Aufrichtigkeit meinte ich vorher. Die Aufrichtigkeit."

Aber ich war nicht mehr interessiert an ihren Worten.

Als der Zug aus dem Bahnhof von Ketho fuhr, stand die Polizistin nicht mehr am Bahnsteig. Wahrscheinlich war sie nach Harland zurückgekehrt, um noch ein paar weitere Jungen für ihre Psychospielchen und das Militär zu gewinnen.

Ich folgte dem Gang, doch die Abteile waren alle überfüllt. Ich sah viele andere junge Männer, die alleine reisten und sich offensichtlich auch verpflichtet hatten. In einem Abteil saßen ein schlaksiger Kerl, der so anständig aussah, dass man ihn in meinem Viertel sofort zerpflückt hätte, und ein echter Märchenprinz, die sich angeregt unterhielten. Zwar war bei ihnen noch ein Platz frei, doch diese Männerfreundschaft wollte ich dann doch nicht stören. Als ich die beiden beobachtete, sah der Märchenprinz kurz auf und lächelte mir zu. Ich schnaubte und zog weiter, als würden Leute wie sie sich mit jemandem wie mir einlassen.

Ich kämpfte mich weiter vor, doch der gesamte Zug war so dermaßen überfüllt, dass ich meine Suche nach ein paar Minuten aufgab und mich einfach auf den Boden hockte. Vor mir lagen zwei Stunden Fahrt und da ich in der Zelle nicht sonderlich viel hatte schlafen können, beschloss ich, dies nun nachzuholen. Kaum waren meine Augen geschlossen, war ich auch schon im Land der Träume.

Als ich wieder erwachte, war es draußen stockdunkel. Ich musste ziemlich lange geschlafen haben. Von einer Zugbegleiterin erfuhr ich, dass der nächste Halt Werrich war und wir diesen in ein paar Minuten erreichen würden. Es belustigte mich, dass mein Körper genau den richtigen Augenblick ausgewählt hatte, um mich zu wecken. Ich schnappte mir meine Tasche und schwankte zur nächsten Tür, während ich mir den Schlaf aus den Augen wischte. Zu meinem Missmut warteten dort auch bereits der Bibliothekar und der Schönling, wie ich sie getauft hatte, noch immer laut plaudernd.

„Das sind dann also unsere letzten Minuten in Freiheit", bemerkte der Bibliothekar.

„Das wird schon", redete die überraschend feminine Stimme des Schönlings auf ihn ein. „Es ist immer leichter, wenn man schon jemanden kennt, so wie wir. Außerdem soll die Kaserne recht neu sein, da haben wir immerhin nicht mit undichten Stellen im Dach zu kämpfen."

Ich seufzte. Natürlich wollten die beiden auch zum Militär. Wie hätte es anders sein können?

Wir hielten an einem kümmerlich beleuchteten Bahnsteig, der weder ein Bahnhofsgebäude noch ein paar Bänke für Reisende besaß. Ich war von der größten Stadt im Reich in dessen kleinstes Kaff verfrachtet worden. Ich meinte sogar, ein Reh erkennen zu können, das vor dem einfahrenden Zug davonlief.

Zusammen mit etwa hundert anderen Jugendlichen stieg ich aus. In Werrich war es viel kälter als in der Hauptstadt und ich fröstelte in meinem dünnen Pullover. Auf dem Boden lag bereits eine dichte Schneedecke, deren Kälte sich durch die Sohlen meiner Stiefel fraß. Unter einer schwächelnden Laterne stand ein strammer Soldat in einer steingrauen Uniform und winkte uns zu sich rüber. Er war vielleicht Mitte zwanzig und hatte in seiner Jugend wohl eine schlimme Akne durchlebt. „Sammeln Sie sich bitte um mich herum!", verlangte er mit einer lauten Stimme. „Ein bisschen schneller!"

Wir scharrten uns um ihn und warteten darauf, was er zu sagen hatte.

„Ich bin Obergefreiter Erich. Ich gehöre zur ersten Kompanie des Elften Alchemiebataillons, bei dem Sie morgen Ihre Ausbildung beginnen werden. Ich hoffe, sie haben nur das Nötigste mitgebracht, wie verlangt war. Wer schwere oder sperrige Gegenstände am Mann hat, sollte diese jetzt besser loswerden."

Die neuen Rekruten sahen sich verwirrt an. Ich konnte mir schon denken, was als nächstes kam.

„Keiner möchte etwas ablegen? Gut, aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt", er zeigte auf die Straße, die sich steil den Berg westlich der Gleise hoch schlängelte. „Folgen Sie mir einfach. Wenn Sie nicht mithalten können, halten Sie sich an die Straße und nach sieben Kilometern werden Sie die Kaserne erreichen."

„Wieso sollten wir nicht mithalten können?", fragte ein Rekrut aus der Masse heraus.

Der Obergefreite grinste. „Das werden Sie dann schon sehen."

Wieder ging das Getuschel los und endete erst, als Erich die Stimme erhob. „Ruhe!", er blickte auf seine Armbanduhr. „Es ist jetzt einundzwanzig Uhr dreiunddreißig. In einer Stunde sind Sie alle am Kasernentor, sonst werden die nächsten drei Monate für Sie alles andere als schön."

Na, das waren ja heitere Aussichten. Ich war gut trainiert und machte mir keine Sorgen, dass ich nicht mithalten konnte, aber wenn ich mir einige von diesen pubertierenden Bohnenstangen so anguckte, hatte ich so meine Zweifel, ob sie das schaffen würden.

„Der Hügel ist auch bekannt als Hügel der Schmach, sehen Sie zu, dass er nicht auch zu der Ihren wird", und mit diesen Worten drehte er sich um und preschte davon.

Na, bitte, dachte ich. Mögen die Spiele beginnen!


Carcan - Die WinterkriegeWhere stories live. Discover now