Carcanische Tugenden

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Qen - Mein Zug nach Werrich sollte bereits am nächsten Morgen abfahren, doch Harriet Sturm hatte mir versichert, dass ich mich zuvor noch von meiner Mutter verabschieden konnte. Meine Handschellen hatte sie mir abgenommen, doch aus der Zelle wollte sie mich nicht rauslassen. Somit kauerte ich auf meiner Pritsche bis schließlich die Tür aufging und mein einziges lebendes Familienmitglied den Raum betrat.

Meine Mutter war kaum anderthalb Meter groß und sehr zierlich. Sie trug ihr schwarzes Haar hochgesteckt und hatte meine Stupsnase und die gleichen kleinen schmalen Augen.

Kaum hatte sie mich gesehen, liefen ihr die Tränen das Gesicht runter und ich durfte mir eine ganze Tirade an Schimpfwörtern auf Jiay anhören, während sie mir eine Ohrfeige verpasste und schon bald lag sie in meinen Armen und weinte. „Wie kannst du mir das antun, Qen? Weißt du, was für Sorgen ich mir gemacht hab?"

„Tut mir Leid, Haya", sagte ich beschämt. Haya war auf Jiay das Wort für Mama und es hatte immer eine beruhigende Wirkung auf sie. Nicht jedoch heute.

„So leicht verzeih ich dir nicht, Myko", wenn sie hingegen das Wort für Sohn auf Jiay benutzte, war sie sehr verärgert. „Leute ausrauben? Was hast du dir dabei gedacht? So haben dein Vater und ich dich nicht großgezogen!"

„Es hat sich alles so ergeben... Ich bin da irgendwie rein gerutscht...", versuchte ich mich raus zu reden. „Und dann war ich so tief drin..."

„Ich hätte dir doch geholfen! Wir hätten das geschafft!", sie nahm mein Gesicht in ihre Hände und blickte mich eindringend an. „Vertraust du deiner Mutter nicht?"

„Natürlich vertraue ich dir!", empörte ich mich. „Wem sollte ich sonst vertrauen?!"

„Das verlange ich, dass du dich auch so verhältst! Qen, es gibt nichts, was wir zusammen nicht schaffen können!"

„Es tut mir Leid...", murmelte ich erneut.

„Das weiß ich doch.", sie fuhr mir durch mein strubbeliges Haar. „Und jetzt sprich. Was hat diese yuomai Polizistin dir erzählt?"

Ich musste schmunzeln angesichts dieser kleinen Beleidigung gegenüber Harriet Sturm und erklärte ihr, was ihre Bedingungen dafür waren, dass sie mich nicht ins Gefängnis steckte. Wie zu erwarten, war meine Mutter alles andere als erfreut darüber.

Hua mo deimin shan sha hueng? Guoji kyou mo feixo lai dan?", empörte sie sich. Ich verstand nur die Hälfte der Wörter und keines davon war besonders nett.

„Es ist okay, Mama. Wirklich. Ich hatte hier Zeit zum Nachdenken, vielleicht ist es nicht verkehrt, wenn ich zur Armee gehe. Dort habe ich Arbeit und ein kleines Einkommen, das ich dir schicken kann. Du wolltest doch immer einen eigenen Imbiss eröffnen, das kannst du davon finanzieren!"

„Während mein Sohn in einem Schützengraben verreckt?!", sie gestikulierte wild. „Hua keipo no qishi. Da lebe ich lieber in Armut!"

„Ich werde schon nicht sterben. Ich bin geübt mit Waffen", schon während ich diesen Satz aussprach, wusste ich, dass das definitiv die falsche Antwort war.

„Du bist geübt mit Waffen?! Myko, was soll das heißen?! Du raubst nicht nur Leute aus, du verletzt sie auch noch dabei?"

„Nein! Nein, Haya, ich schwöre ich hab niemanden verletzt!"

Ihr Gesicht wurde wieder ein wenig entspannter. „Woher weißt du dann, wie man mit Waffen umgeht?"

„Ich wollte vorbereitet sein. Harland ist gefährlich, da wollte ich uns beschützen können", es war die Wahrheit, zumindest die Hälfte davon.

Sie zögerte. „Gut... Trotzdem... Zur Armee?"

„Die Alternative ist das Gefängnis. Und da will ich ganz bestimmt nicht hin."

„Können wir nicht noch einmal mit dieser yuomai reden? Vielleicht gibt es eine andere Lösung."

„Oh, sie hat mir versichert, dass es die nicht gibt. Außerdem habe ich schon unterschrieben", gab ich zu.

„Ohne mich zu fragen?", sie verschränkte die Arme. „In Jiay bespricht man solche Dinge mit seinen Eltern!"

„Wir sind aber nicht in Jiay. Außerdem hatte ich keine Wahl. Wenn du die Frau erlebt hättest..."

„Dann willst du also wirklich gehen?"

„Ich muss", versicherte ich ihr. „Und ich verspreche dir, dass ich, sobald ich meine zwei Jahre hinter mir hab, zu dir zurückkehren werde und dann machen wir zusammen einen kleinen Laden auf, ja?"

„Qen...", dann brach sie erneut in Tränen aus und ich drückte sie an mich. Es sollte der letzte Augenblick sein, den wir beide für eine lange Zeit zusammen genießen konnten.


Kurz darauf kam Sturm in die Zelle und riss meine Mutter beinahe von mir weg. Ich rief ihr noch hinterher, wie sehr ich sie liebte und dass ich mich bessern wollte und dann schloss sich die schwere Eisentür und ich war mit meinen Gedanken allein. Ich wollte es mir schon auf meinem Bett bequem machen, da bemerkte ich den Umschlag, der auf dem kleinen Hocker in der Ecke lag.

Ich nahm ihn mir und riss ihn auf, um seinen Inhalt zu sehen. Wie es sich herausstellte, war es eine Abhandlung über die Carcanischen Tugenden.

Der carcanische Bürger ist fleißig. Er kennt keinen Müßiggang, keine Müdigkeit. Wenn er etwas für das Vaterland tun kann, packt er mit an und ist sich nicht zu fein, die Hände schmutzig zu machen, wenn er muss.

Der carcanische Bürger ist zuverlässig und dem Kaiser gegenüber treu. Er dient nur seinem Vaterland und keinem zweiten und ist zeitig da, wenn er gebraucht wird. Gesetzte Zeiten hält er ein.

Der carcanische Bürger weiß, wo er steht. Er kennt seine Vorgesetzten und seine Untergebenen und benimmt sich dem entsprechend. Nie würde er sich Macht anmaßen, oder sich vor der Verantwortung drücken.

Der carcanische Bürger ist aufrichtig. Er scheut sich nicht, die Wahrheit zu sagen und seine Überzeugung kund zu tun.

Ich zog eine Augenbraue hoch. Was sollte ich denn damit anfangen? Wollte Sturm mir damit sagen, dass ich all diese Eigenschaften nicht besaß? Oder wurde das obligatorisch an alle Insassen verteilt? Meine Eltern hatten mir auch Werte und Normen mit auf den Weg gegeben und in Jiay herrschten ebenfalls Recht und Ordnung.

Wie auch immer, mich konnte sie damit nicht beeindrucken. Ich knüllte das Blatt zusammen und steckte es in meine Hosentasche.

Da ich nun endlich ein bisschen Zeit zum Nachdenken hatte, viel mir erstmal auf, wie beschissen dieser Tag insgesamt verlaufen war. Zunächst hatte ich bei einem Kunden versagt, dann war ich in einer Arrestzelle gelandet und schließlich hatte ich mich für zwei Jahre von meiner Mutter trennen müssen. Das Datum musste ich mir im Kalender rot anstreichen, so viel Unglück auf einmal hatte man selten.

Beim Einplaner hatte man mir gesagt, dass man mich nach Werrich schicken wollte, einem Tausend-Seelen-Dorf etwa hundertfünfzig Kilometer nördlich von hier am Fuße des Hestermassivs. Dort hatten die Alchemisten einen neuen Standort eröffnet und nahmen für den Aufbau einer funktionierenden Einheit selbst Abschaum wie mich. Einerseits freute ich mich, dass ich relativ heimatnah eingesetzt wurde, andererseits hätte ich lieber in der Infanterie gedient. Ich hatte schon oft gehört, dass die Alchemisten alle verrückt waren und selbst nur selten wussten, was sie taten. Und was genau sie dort trieben, wusste auch keiner. Mit einer Waffe durch die Gegend zu rennen, war da doch bedeutend einfacher. Aber es lag nicht in meiner Hand. Man hatte mir gleich zu Beginn des Gesprächs versichert, dass man die Stelle auch ohne meine Zustimmung für mich auswählen könne.

Aber wer weiß, vielleicht konnte ich nach meiner Dienstzeit dann auch Kohle zu Gold verwandeln, zu einer solchen Fähigkeit würde ich ganz sicher nicht nein sagen.

Ich drehte mich auf die Seite und versuchte, irgendwie eine bequeme Position zu finden, was auf der schmalen Pritsche ziemlich unmöglich war. Doch schneller als ich es erwartet hatte, fielen mir die Augen zu. Er kennt keinen Müßiggang, keine Müdigkeit, dachte ich an die carcanischen Tugenden zurück und war schneller eingeschlafen als jemand Kaiser Adalbert sagen konnte.



Carcan - Die WinterkriegeWhere stories live. Discover now