Er hatte wirklich ein paar schöne Karten im Angebot und so nahm ich eine für meine Mutter mit. Sie würde sich sicher freuen.

Ich kam mir vor wie ein Fremder als ich vor unserem klobigen Wohnhaus stand. War ich nur drei Monate abwesend gewesen? Ich fühlte mich um Jahre gealtert. Der Briefkasten mit dem Schild Shendong war noch immer an seinem Platz. Ich strich über das kalte Metall. Warum zögerst du so? Du besuchst deine Mutter!

Ich öffnete langsam die Haustür als erwarte mich dahinter ein Zerberus. Doch ich wurde von keinen mythischen Bestien angefallen. Lediglich der gähnend leere Hausflur mit dem altbekannten Geruch nach leicht fauligen Lebensmitteln füllte meine Nase. Und dann roch es nach ihrem Essen. Mae Kinju!, stellte ich fest. Mein Lieblingsgericht...

Ich sprang die Stufen in den dritten Stock regelrecht empor, nur um dann vor der Wohnungstür doch wieder inne zu halten. Was sollte ich ihr sagen? Hatten wir uns überhaupt noch was zu sagen nach der langen Zeit? Klar, wir tauschten regelmäßig Briefe aus, aber von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen, war etwas völlig anderes. Ob sich ihr Leben verändert hat? Was wenn sie mich gar nicht hier haben will?

Ein kleiner Teil von mir plädierte dafür, wieder kehrt zu machen. Dann merkte ich, wie dumm diese Idee war. Ich wollte gerade Klopfen, da ging die Tür auf.

In dem Moment, in dem meine Mutter mich anstrahlte, waren all meine Sorgen vergessen. Sie war meine Mutter! Zu ihr würde ich immer zurückkehren können. Glücklich fielen wir uns in die Arme. „Myko!", schluchzte sie und drückte mich fester, als ich es bei einer Frau ihrer Statur für möglich gehalten hätte. „Du bist es wirklich!"

„Natürlich bin ich es, Haya! Ich bin hier, um dich zu sehen", mein Hals war trocken und in meinen Augen sammelten sich Tränen. Dass Wiedersehen so schön sein konnten!

„Ich wusste es! Ich wusste es! Ich habe von dir geträumt, Myko. Ich wusste, du würdest kommen."

Ich lachte. „Du und deine Träume!"

„Du siehst gut aus. Stark und schön."

„Du auch, Haya. Ich hoffe, du hast dich nicht zu sehr um mich gesorgt."

„Qen, ich sorge mich immer um dich. Jede Sekunde meines Lebens", sie sah mich an. „Komm schon rein. Ich habe Mae Kinju für dich gemacht."

Hinter uns fiel die Tür ins Schloss. Obwohl ich schon bei den Starks gegessen hatte, langte ich nochmal kräftig zu. „Mein großer Junge...", murmelte meine Mutter immer wieder. Ich überreichte ihr die Karte, die ich fast völlig vergessen hatte. Wir unterhielten uns bis spät in die Nacht. Es war noch nie so leicht gewesen, mit ihr zu reden und wir hatten uns viel zu erzählen. Als ich um halb drei in mein altes Bett fiel, war ich wirklich, wirklich glücklich.

Leicht übermüdet schleppte ich mich am nächsten Tag zum Bahnhof. Von meiner Mutter hatte ich reichhaltigen Proviant bekommen, den ich nie würde aufessen können. Auch der Feldwebel schleppte ein auffällig großes Bündel mit sich. „Was wären wir ohne die Frauen?", fragte er.

Ich zuckte die Schultern. „Auf jeden Fall um einiges schlanker."

Er schmunzelte. „Vermutlich."

Wir hatten ein Abteil für uns. Die meiste Zeit der Fahrt schwiegen wir. Zum Mittag tauschten wir unser Essen aus. Der Feldwebel war wirklich begeistert von der ausländischen Küche meiner Mutter. „Meine Frau würde sich bestimmt über das Rezept freuen", sagte er. Ich versprach, es ihm zu besorgen. Aber auch Starks Frau hatte sich nicht lumpen lassen und ein Fresspaket geschnürt, dass für eine ganze Kompanie gereicht hätte.

Carcan - Die WinterkriegeWhere stories live. Discover now