Es war wieder hell im Raum, was bedeutete, dass der nächste Tag schon angebrochen war. Ich hatte bestimmt zehn Stunden geschlafen. War ich nun erholter? Ich spürte keine Veränderung.

Dieser Tag verlief ähnlich wie der letzte. Leute betraten das Zimmer und versuchten, mit mir zu reden. Ich blieb stumm. Jemand hielt mir einen Löffel Eintopf direkt vor den Mund und forderte mich auf, zu essen. Als mein Besuch merkte, dass ich noch immer keinen Appetit verspürte, schüttelte er enttäuscht den Kopf und überließ mich wieder meiner Einsamkeit.

Doch einer wollte mich nicht alleine lassen.

Qen blieb den gesamten Vormittag über an meiner Seite und redete auf mich ein. Jedenfalls glaubte ich das, denn sein Mund bewegte sich. Noch mehr stumme Worte.

Trotz meiner Teilnahmslosigkeit hielt er es bis zum Abend bei mir aus. Dann schüttelte er den Kopf und verschwand. Es dauerte nicht lange, da kehrte er zurück. Er hatte Elmar im Schlepptau, der sich stark auf dem dunkelhaarigen Jungen abstützen musste. Ein dicker Verband zierte seine Stirn und er wirkte sehr mitgenommen. Wäre ich nicht so gedankenleer gewesen, hätte ich mich bestimmt um ihn gesorgt, doch so war er nur eine weitere Person, die meine Ruhe störte.

Die beiden unterhielten sich und lachten. Stumm.

Das elektrische Licht wurde pünktlich wie immer abgestellt. Tische und Bänke wurden verrückt, das Bett quietschte als jemand die Leiter hochkletterte. Waren die beiden noch hier? Und wo war Rito? War er bei Qen?

Ich wollte nicht wieder schlafen. Meine Begegnung letzte Nacht hatte mir dies verdorben.

Und doch fielen meine Lider irgendwann zu.

Aber ich kehrte nicht in die Berge zurück. Ich war in Ehresberg, in der Einkaufsstraße. Die carcanische Flagge hing am Mast vor dem Rathaus: Gelb-blaues Schachbrettmuster, darauf die goldenen Zwillingslöwen. Es war hell, doch die Straße war leer. Dann streifte etwas meine Hand. Ich fuhr herum und erblickte den Berglöwen, der mir schon zuvor begegnet war. Er sah mir in die Augen und ging weiter.

Ich folgte ihm durch die leere Stadt. Wo waren all die Menschen? Und wo führte der Löwe mich hin?

Wir liefen auf den Pflastersteinen, bis wir zu einer Kreuzung gelangten. Das Raubtier bog nach links ab, doch als ich ebenfalls diesen Weg einschlagen wollte, hielt mich eine unsichtbare Wand davon ab. Traurig drehte sich die Katze zu mir um. Es hieß Abschied nehmen. Ich war nicht bereit, ihr zu folgen.

Ich legte meine Hand auf die unsichtbare Mauer vor mir und beobachtete das Tier, bis es zwischen den Häusern verschwand.

Als ich erwachte, hatte ich den Traum schon fast wieder vergessen.

Es hatte sich nichts verändert, ich lag noch immer auf meiner Pritsche, trug noch immer die gleichen Kleider. Ich drehte leicht den Kopf und entdeckte Elmar, der ebenfalls auf seinem Bett lag und von Qen etwas zu essen entgegen nahm. Wie konnte er essen? Wie konnte er irgendwas tun?

Dann deutete Elmar auf mich und Qen drehte sich zu mir um. Er kam auf mich zu und sprach dabei stumme Worte, die mich nicht erreichten. Er bemühte sich um ein Lächeln, doch merkte, dass es sinnlos war.

Ich dachte schon, er würde wieder den ganzen Tag etwas erzählen, aber heute hatte er was anderes mit mir vor.

Sein Lächeln wandelte sich zu einem entschlossenen Gesicht. Er packte mich am Kragen und hob mich vom Bett. Er zerrte mich zur Wand und rammte mich dagegen, so dass es mir die Luft aus den Lungen presste. Dann holte er aus verpasste mir eine schallende Ohrfeige.

Seine nächsten Worte waren nicht stumm. „Wach endlich auf, verdammt nochmal!"

Ich antwortete nicht, doch an meinem Gesichtsausdruck musste er erkannt haben, dass ich ihn verstanden hatte.

„Es tut uns allen weh, okay? Wir haben ihn geliebt wie einen Bruder und es ist verdammt schwer! Aber du bist nicht alleine! Wir sind hier! Wir machen uns verdammt nochmal Sorgen um dich! Wenn du schon nicht reden willst, dann gib uns doch wenigstens ein Zeichen!"

Darauf tat ich etwas, das ich schon seit der verheißungsvollen Nacht nicht mehr getan hatte. Ich reagierte und schenkte Qen ein Nicken.

Er ließ von mir ab. „Danke."

„Aaros, du kannst immer zu uns kommen", sagte Elmar.

Ich nickte erneut.

Qen hielt mir ein frisches Brot hin, das angenehm duftete. Erst jetzt spürte ich, wie hungrig ich war. Herzhaft biss ich in den weißen Laib und schlag ihn nach und nach runter. Ich musste aussehen wie eine Bestie, doch es war mir egal. Ich spülte meine Mahlzeit mit einem Glas Wasser runter, dann schleppte ich mich zum Waschraum, der verlassen war. Wo waren alle? Welcher Tag war heute?

Ich zog mich aus und kippte mir eine Schüssel kaltes Wasser über den Kopf. Es war schrecklich, doch es tat unendlich gut.

Ich hätte gerne behauptet, dass von da an wieder alles besser war, doch so leicht wollte meine Trauer nicht überwunden werden. Nach meinem Bad schleppte ich mich zurück ins Bett und widmete mich wieder dem Nichtstun.

Es sollte noch einige Tage dauern, bis ich wieder ein Wort sprach.

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Moin, Leute!

Mit diesem Kapitel haben wir die 50.000-Wort-Marke überwunden. Das ist quasi ein halbes Buch!

Vielen Dank an alle, die bis zu diesem Tag die Geschichte verfolgt haben und immer so fleißig voten und Kommentare schreiben.
Auf die nächsten 50.000 Wörter!

Und keine Sorge: Die im Titel versprochenen Winterkriege kommen ganz sicher noch.

Wundert euch bitte nicht, wenn es ab jetzt mit den Updates ein bisschen länger dauert. Bisher hab ich einfach immer drauf los geschrieben, aber jetzt, wo es so richtig losgeht und die Welt von Elli und co noch weiter wächst, wollte ich die Geschichte mal ein bisschen besser plotten, damit es später keine Logiklücken gibt.

Aber nun genug der Worte.

Noch einmal herzlichen Dank und bis bald!

Carcan - Die WinterkriegeWhere stories live. Discover now