Someday we'll see each other...

By freezing_storm

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✹☾NEW ADULT☽✹ »Weißt du, ein Mensch darf nie alles für dich sein. Denn wenn er geht, hast du nichts, was dir... More

Vorwort
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Epilog
Schlusswort und Danksagung

Kapitel 56

286 47 127
By freezing_storm

,,You said goodbye like it was just a word and it wouldn't take my breath away.''

-Unknown


Schleichend kam es in Wellen. Direkt auf uns zugerollt. Unaufhaltsam. Riss alles in Stücke. Dass nichts mehr übrig blieb. Von uns.

Ich wollte es nicht akzeptieren. Konnte es nicht.

Innerhalb von zwei Tagen hatte sich Evans Zustand noch mehr verschlechtert. Dr. Lewis sah seine Hoffnungen schwinden. Ein schwerer Erreger hätte sich in Evans Körper eingenistet wie ein Parasit, der ihn von innen auffraß.

Es fühlte sich so an, als bestände Evans Leben aus einer Sanduhr. Nur war ich es, die den Sand durch meine Finger rieseln spürte. Immer schneller. Und es gab kein zurück. Dieses Mal konnte ich die Uhr nicht umdrehen.

Die letzten beiden Tage hatte Evan die meiste Zeit über geschlafen. Mir kam es so vor, als hätte er seinen Lebenswillen verloren. Er lachte nicht mehr. Schaute mich nicht mehr an. Stattdessen wich er meinen flehentlichen Blicken aus. Er wollte nicht mehr kämpfen. Vielleicht hatte er auch keine Kraft mehr dazu.

Während ich alles daransetzte, Evan es so angenehm wie möglich zu machen, blieb Raven die ganze Zeit an meiner Seite. Wenn wir spätabends bei meinen Großeltern zuhause ankamen und sich die Tür hinter uns schloss, war er es, der mich auffing. Ich hatte keine Kraft mehr. Die Panik erfüllte mich und ich schrie meinen Frust und diesen qualvollen Schmerz in die Welt hinaus.

Raven war derjenige, der mich in den Schlaf wiegte, wenn mich Albträume verfolgten und ich schluchzend aufwachte. Er hielt mich fest und drückte mich an seine warme Brust, wenn ich eine Panikattacke hatte.

Von all dem bekam Evan nichts mit. Ich wollte stark für ihn sein. Für uns beide. Doch auch ich hatte meine Grenzen und ich wusste nicht, wie lange ich noch imstande war, diese Mauern vor ihm aufrechtzuerhalten. Nur Raven bekam mit, wie es wirklich in mir aussah. Er fing mich auf, wenn meine Beine zu schwach wurden, um mich zu tragen. Ich ließ ihn als einzigen Menschen hinter meine Fassade blicken.

Ich wusste nicht, wie ich all das anders hätte durchstehen sollen. Ohne Raven wäre ich schon verloren gewesen.

Der Sturm war längst über uns hereingebrochen und tobte. Er ließ nichts als Verwüstung zurück. Er nahm mich gefangen, breitete sich in mir aus und ließ mich hilflos fühlen.

Die Sonne konnte mich nicht mehr wärmen. Ich erfror und verbrannte gleichzeitig.

Meine Panik stieg ins Unermessliche, wenn ich daran dachte, dass vielleicht heute der letzte Tag sein könnte, an dem mein Bruder noch leben würde.

Mit jedem Tag, an dem es ihm schlechter ging, nistete sich dieser Gedanke immer mehr in meinem Kopf ein.

Ich wollte mich der Realität nicht stellen.

Und doch wusste ich tief in mir drinnen, dass es zu spät war. Ich würde fallen, tiefer als jemals zuvor und nichts würde mich auffangen können.

Ich war mir nicht sicher, wie viel Schmerz ein Mensch ertragen konnte, bis er zerbrach. Ich wollte es nicht herausfinden. Nicht jetzt. Bitte noch nicht jetzt.

Fest hielt ich Evans knochige Hände mit meinen umschlungen. Seine Atmung war unregelmäßig. Flach. Ich konnte förmlich spüren, wie meine Seele innerlich bei seinem Anblick in Tausend kleine Stücke zerfiel. Ihn auf diese Weise leiden zu sehen, brach mir das Herz. Ich konnte nur stumm dabei zusehen, wie er sich jeden Tag ein bisschen mehr von mir entfernte.

Warum hatten wir nicht einmal in unserem Leben Glück? Wieso wurde uns immer alles genommen? Womit hatten wir all dieses Leid nur verdient?

Niemand würde mir darauf eine gerechte Antwort geben können. Das Leben war nicht fair. Das war es nie.

Ein leises Klopfen an der Tür ließ mich zusammenzucken.

,,Ich geh schon'', murmelte Raven und gab mir zu verstehen, dass ich sitzen bleiben sollte. In seinem Blick spiegelte sich Sorge wider. Er hatte Angst um mich, das konnte ich in seinen Augen sehen, die mich immerzu wachsam beobachteten. Ich merkte es an der Art, wie fest er mich hielt, wenn eine neue Panikattacke mich überfiel.

Seitdem wir ihn vor zwei Tagen mit Evan alleingelassen hatten, wirkte er verändert. Er konnte mir an diesem Tag nicht in die Augen schauen. Er dachte, ich hätte es nicht gemerkt, doch ich hatte gesehen, wie seine Hände gezittert hatten, als er den Raum verlassen hatte, um zu telefonieren. In der gleichen Nacht hatte ich ihn zu mir in die Arme gezogen und seinen Kopf auf meine Brust gebettet, da er in seinem Traum geweint hatte. Ganz leise hatte er immer wieder meinen Namen geflüstert. Es hatte mir das Herz gebrochen, ihn so leiden zu sehen wegen mir. In diesem Moment empfand ich so viel Liebe für ihn, dass ich Angst hatte, ich würde ihn mit in meine Dunkelheit ziehen, wenn er weiterhin an meiner Seite bleiben würde. Mein Leben war vom Schicksal gezeichnet seit dem Moment, als alles schief ging. Nur weil es mein Schicksal war, bedeutete es nicht, dass es seins werden müsste. Raven verdiente mehr als das hier. Mehr als ich ihm je geben könnte.

Während Raven um die Ecke bog, um die Tür zu öffnen, strich ich Evan eine verirrte Strähne aus dem Gesicht. Sein Fieber war noch immer nicht gesunken. Immer wieder tupfte ich mit einem feuchten Tuch den Schweiß von seiner Stirn. Unter seinen geschlossenen Augenlidern flimmerte es. Seine Augen zuckten unruhig hin und her. Wahrscheinlich träumte er schlecht.

Sanft strich ich ihm über die knochigen Wangen.

Das Getuschel aus dem kleinen Flur ließ mich allerdings aufhorchen.

,,Ihr müsst leise sein. Er schläft gerade.''

,,Du'', rief Alice in normaler Lautstärke, als sie plötzlich verstummte. Wieder zischte jemand.

,,Was ist an dem Wort leise so schwer zu verstehen?'' – Jace. Seine tiefe Stimme hätte ich überall wiedererkannt. Ein ehrliches Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. Es fühlte sich ungewohnt an. Falsch irgendwie. Als dürfte ich nicht glücklich sein.

Im nächsten Moment schob sich Alice' Gesicht in mein Blickfeld. Ihr folgten Jace und Carter, die allesamt mehrere Luftballons in den Händen hielten. Alle drei kamen sie auf Zehenspitzen auf mich zu. Freude durchströmte mich, als ich in ihre verschmitzten Gesichter sah. Nur Alice' Gesicht zeigte eine Spur von Reue.

Ich löste meine Hand von Evan und legte sie zurück unter die warme Decke, ehe ich mich aufrichtete und Alice in die Arme lief. Es war schon komisch. Vor einem Dreivierteljahr war es mir noch unangenehm gewesen, andere Menschen zu umarmen. Nun waren die Arme meiner Freunde zu meinem Zufluchtsort geworden, in denen ich mich verstecken konnte. Dass sie hier waren, bedeutete mir mehr, als ich mit Worten ausdrücken könnte.

Ich klammerte mich an sie fest und legte meinen Kopf an ihre Schulter. ,,Danke, dass ihr da seid'', flüsterte ich in ihre langen schwarzen Haare, die nach Kokosnuss rochen. Auch Alice schlang ihre Arme um mich und strich mit ihrer freien Hand beruhigend über meinen Rücken.

,,Das ist doch selbstverständlich.''

Ihr warmes Lächeln heilte mich und ließ mich für kurze Zeit meinen Schmerz vergessen. Auch wenn der Druck in meiner Brust immer blieb.

Eine Träne quoll mir aus dem Augenwinkel, als ich mich von ihr löste und zu Carter aufschaute, der mir in diesem Moment viel größer erschien, als ich es bisher wahrgenommen hatte. Seine kristallblauen Augen verhakten sich mit meinen. Er breitete wortlos die Arme aus und ich flüchtete mich zu ihm, da er von all meinen Freunden einem Bruder am nächsten kam.

Ich hatte von Anfang an gespürt, dass wir beide eine besondere Verbindung zueinander hatten. Er war mir charakterlich sehr ähnlich. Mit seiner ruhigen, verständnisvollen Art konnte ich mich bei ihm fallen lassen. Ich fühlte mich wohl in seiner Nähe. Beschützt und verstanden. Er wusste, wie es sich anfühlte, seine Eltern in kürzester Zeit zu verlieren.

Ein Beben erschütterte meinen Körper, als all der Schmerz langsam an die Oberfläche trat. Ich konnte nichts gegen die aufkeimenden Tränen unternehmen, die meine Sicht verschwimmen ließen. Sein Griff um meinen Körper war nicht fest, eher spürte ich seine Berührung kaum. ,,Wir stehen das gemeinsam durch'', wisperte er in mein Ohr und ich konnte nichts anderes tun, als zu nicken. ,,Danke, dass du hier bist, Carter.''

Er schüttelte mit dem Kopf. Eine kleine Falte bildete sich unter seinem linken Auge, als er mir behutsam über die Wange streicht. ,,Wir sind für dich da. Wenn du fällst, fangen wir dich auf. Besonders mein Freund da, der mit verschränkten Armen hinter mir steht, würde alles für dich tun. Du musst da nicht allein durch, ok?''

Mein Blick glitt vorbei an Carter und blieb an Raven hängen, der sich bemühte, ein Lächeln aufzusetzen. Carter löste sich von mir und gab mich frei, damit ich meinen letzten Besucher empfangen konnte.

Mit Jace hätte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Nicht, weil er mir nicht genauso viel bedeutete wie Carter oder Alice, aber ich war mir nicht sicher, inwieweit er sich dem, was hier passierte, stellen wollte. Ich sah in sein Gesicht, dass zum ersten Mal seit ich ihn kannte, kein Lächeln auf seinen Lippen trug. Er sah aus wie ein verlorener Hundewelpe. Unruhig tänzelte er von einem Bein aufs andere. Sein Blick war voller Mitgefühl, während er immer wieder zwischen mir und Evan hin und her schaute.

Er kam auf mich zu, doch anstatt mich in die Arme zu nehmen, nahm er mein Gesicht in seine beiden Hände und wischte mir mit den Daumen die letzten Tränenreste weg. ,,Ich kann es nicht ertragen, wenn du weinst'', flüsterte er und hielt mich mit seinem Blick gefangen. Es war die Fürsorge eines Freundes, die ich in seinen Augen erkannte, also lehnte ich mich ein wenig in seine Hände hinein und schloss die Lider.

Ein stöhnendes Geräusch gefolgt von einem starken Husten katapultierte mich zurück in die Realität. Sofort wurde mein Körper unter Alarmbereitschaft gesetzt.

So schnell wie möglich eilte ich an Evans Seite, der sich quälend die Brust hielt, während er krampfhaft nach Luft schnappte. Seine Atemzüge wurden immer flacher. Panisch schaute er mich aus seinen aufgequollenen Augen an, während der Hustenkrampf ihm jeglichen Sauerstoff aus der Lunge zog.

Raven kam ebenfalls an Evans Seite und half ihm, sich aufzurichten. Nach qualvollen Minuten, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, ebbte der Anfall ab. Erschöpft ließ Evan sich zurück in die Kissen sinken. Stöhnend riss er die Atemmaske von seinem Gesicht.

,,Besuch?'', krächzte er, während er mit hochgezogenen Augenbrauen zu meinen Freunden schaute. Typisch Evan. Seine Neugier war unaufhaltsam. Schnell reichte ich ihm ein Glas Wasser, damit er seine ausgetrockneten Lippen befeuchten konnte.

,,Alice'', wisperte er und seine Mundwinkel hoben sich leicht, als er sie erkannte.

Selbstsicher schritt sie auf ihn zu und beugte sich über ihn, um ihn zu umarmen.

So leise, dass die anderen es nicht hören konnten, lehnte sich Evan noch ein Stück näher an Alice und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

,,Der Große mit den braunen Haaren, der aussieht, als würde er mich gleich zerfleischen wollen, falls du noch näher an mich herankommst, ist bestimmt Carter, oder?''

Ich schmunzelte und schaute zu Carter, der wirklich ein wenig irritiert aussah.

,,Carter, richtig?'', richtete Evan seine Aufmerksamkeit auf ihn und nickte ihm freundlich zu. Dieser erwiderte die Geste. Carter war noch nie ein Mann der großen Worte gewesen.

,,Du kannst dich glücklich schätzen, Alice als deine Freundin zu haben. Sei froh, dass ich sie nicht früher kennengelernt habe'', murmelte er krächzend und hielt sich dabei schmerzlich den Hals. Seine Worte hatten dennoch seine Wirkung nicht verfehlt. Carter schnaubte ein wenig, doch ein warnender Blick von Alice ließ ihn verstummen. ,,Ich habe großes Glück'', murmelte er stattdessen und ließ sich auf das Ledersofa fallen.

,,Und du bist Jace? Alice und Aza haben schon viel von dir erzählt. Es freut mich, dich kennenzulernen.'' Jace wirkte ein wenig eingeschüchtert. Wahrscheinlich überlegte er gerade fieberhaft, was wir meinem Bruder erzählt hatten. ,,Die Freude liegt ganz bei mir.'' Seine Stimme zitterte leicht. Ich warf ihm einen aufmunternden Blick zu. Evan war niemand, vor dem man sich fürchten musste. Vor allem nicht in seinem Zustand.

Alice, Carter und Jace blieben noch etwa eine Stunde, ehe sie sich verabschiedeten. Alice hatte die meiste Zeit gesprochen, besonders über irgendwelche Fälle, die sie gerade in ihrem Studium bearbeitet hatte. Evan fielen dabei immer wieder die Augen zu. Man sah, wie schlecht es ihm ging.

Nachdem die Drei gegangen waren, verließen auch wir das Zimmer und ließen Evan den Rest des Nachmittags schlafen. Gemeinsam mit Raven ging ich noch einmal kurz nach Hause und holte ein paar Sachen. Ich hatte mir vorgenommen, Evan morgen ein wenig vorzulesen.

Vielleicht lenkte ihn das ein wenig von seinen Schmerzen ab.

Ein ungutes Gefühl, als würde etwas Schlimmes passieren, nagte schon den ganzen Tag an mir. Wie ein dunkles Omen hing es über mir. Ich versuchte, dieses Gefühl zu ignorieren, aber es begleitete mich auf meinem ganzen Weg zurück ins Krankenhaus. Es wurde schlimmer, als ich die Fluren des Krankenhaustraktes entlanglief.

Ich war allein. Raven würde mich in wenigen Stunden abholen, da er die Zeit nutzen wollte, um kurz bei seiner Familie vorbeizuschauen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, da ich in letzter Zeit so selten bei ihnen zuhause war. Aber Rose hatte mir immer wieder versichert, dass alles in Ordnung sei und ich mir keine Gedanken machen bräuchte.

Alles war ruhig, als ich das Zimmer betrat. Nur die vielen kleinen Lichterketten blinkten munter vor sich hin. Zu meiner Verwunderung war Evan wach. Er hatte die Augen zum Fenster gerichtet und startete in die aufkommende Dunkelheit hinaus.

Als er mich bemerkte, lächelte er das erste Mal seit zwei Tagen wieder.

,,Aza, ich bin froh, dass du da bist.'' Seine Stimme klang hohl und man konnte seine Erschöpfung förmlich spüren.

,,Kannst du dich zu mir legen?'', hauchte er und klopfte mit seiner Hand auf die freie Bettseite.

Ich zog meine Schuhe und Jacke aus und schlüpfte kurzerhand unter die Decke. Meine Hände waren eiskalt, als ich sie auf Evans verschwitzte Brust legte. Er zuckte unter meiner Berührung kurz zusammen, doch er sagte nichts.

Für einige Minuten lagen wir einfach still nebeneinander. Er hatte den Arm um mich geschlungen und ich hatte meinen Kopf auf seine Brust gelegt. Ich schloss meine Augen und lauschte seinem Herzschlag. Es schlug unregelmäßig.

Der Druck in meiner Brust wurde größer. Fest biss ich die Lippen aufeinander. Ich durfte nicht schwach werden. Nicht jetzt. Erst später. Später...

,,Aza'', hauchte er meinen Namen mit so viel Liebe und Traurigkeit, dass ich schwer schlucken musste. ,,Ich muss dir etwas sagen.''

Nein.

Ich ahnte, was als nächstes kommen würde und ich war nicht bereit dazu.

Das Reden bereitete ihm große Anstrengung. Immer wieder versagte seine Stimme, als er ansetzte, um zu sprechen.

Ich schüttelte den Kopf.

,,Ich will es nicht hören'', antwortete ich entschieden und schloss meine Augen. Das, was er mir sagen wollte, konnte ich nicht ertragen. Denn wenn er es aussprach, würde es Realität werden und ich war noch nicht bereit dazu, mich dieser zu stellen.

,,Ich muss...''. Seine Stimme brach. Er holte angestrengt Luft, während seine Finger sanft durch meine Haare wanderten.

,,Bitte, mach es mir nicht so schwer.'' Ich konnte hören, wie viel Kraft ihm diese Worte kosteten. Doch für mich fühlte es sich so an, als wäre unsere Zukunft bereits festgeschrieben. Die Endgültigkeit in seiner Stimme riss mir jeglichen Boden unter meinen Füßen weg.

Meine Lippen begannen heftig zu beben.

,,Ich kann nicht...Bitte. Du darfst nicht...'', schluchzte ich und krallte mich an seinem T-Shirt fest.

,,Psch...Es ist okay. Bitte weine nicht.'' Seine Stimme zitterte, während er mir immer wieder über den Kopf strich und mich näher an sich drückte.

Verzweifelt krallte ich mich an ihm fest, als könnte ich ihn so für immer halten.

,,Wie soll ich weiterleben, wenn du kein Teil mehr von dieser Welt bist?'', rief ich vorwurfsvoll, während immer mehr Tränen an die Oberfläche traten und über meine Wangen liefen.

,,Du hast Raven, Grandma und Grandpa, Alice und all deine anderen Freunde. Du wirst wieder glücklich sein'', flüsterte er, doch ich schüttelte nur verzweifelt den Kopf. Warum hörte er mir nicht zu?

,,Sie sind aber nicht du. Bitte. Du...du kannst nicht gehen. Mom...'' Schluchzend brach ich den Satz ab. Wenn ich jetzt an Mom und Dad dachte, würde ich völlig zusammenbrechen. Mein Körper erzitterte. Ich drohte an meiner eigenen Trauer zu ertrinken. Evan versuchte sein Bestes, um mich zu beruhigen. Sanft wiegte er mich in seinen Armen, doch der Schmerz erdrückte mich.

,,Wenn du auch gehst, habe ich nichts mehr...''

Wie konnte er mich auch verlassen wollen? Warum kämpfte er nicht? Er musste leben. Er musste einfach.

Dicke Tränen quollen aus seinen geröteten Augen. Sein Gesicht verzog sich schmerzerfüllt.

,,Bitte, Aza. Du musst mir zuhören. Es ist mir wichtig. Bitte schaue mich an''

Zuerst wollte ich wieder den Kopf schütteln. Ich kannte Evan. Er würde mir sagen, dass ich mein Leben weiterleben sollte. Dass es irgendwann besser werden würde. Doch die Zeit heilte keine Wunden. Da irrte er sich.

Trotzdem nickte ich und hob meinen Blick. Obwohl es mich innerlich zerriss, wollte ich ihm die Gelegenheit geben, diese Worte auszusprechen. Seine bernsteinfarbenen Augen sahen mich flehend an. Der Blick in seinen Augen versetzte mir einen Stich.

,,Lebe für mich.''

Sanft strich er mir mit seinem Daumen über das Gesicht.

Ich bekam keine Luft.

,,Das kann ich nicht...'', schluchzte ich erstickt und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.

,,Bitte. Ich kann nicht gehen, wenn ich weiß, dass es dir den Boden unter den Füßen wegziehen wird, wenn ich nicht mehr da bin'', schluchzte er.

Wie sollte ich ihm etwas versprechen, von dem ich wusste, dass ich es nicht halten können würde?

,,Okay'', hauchte ich, da ich zu mehr nicht imstande war. Es war eine Lüge.

Er seufzte erleichtert auf.

,,Du warst die beste Schwester, die ich mir hätte wünschen können. Ich...ich war jede Minute meines Lebens dankbar, dich an meiner Seite zu haben.''

,,Ich möchte nicht gehen. Es bricht mir das Herz'', flüsterte er. ,,Ich habe Angst, da ich nicht weiß, was auf mich zukommen wird. Und das erste Mal wirst du nicht an meiner Seite sein, um mich zu begleiten.''

Sein Schluchzen erfüllte den Raum. Unsere Körper bebten. Doch wir hielten uns fest. Schenkten uns Halt, obwohl alles um uns herum zerfiel.

,,So lange es geht, werde ich bei dir sein. Bis zum Schluss'', hauchte ich, obwohl diese Worte meinen Rachen versengten.

Er war noch hier. Bei mir. Lebendig.

Mit diesen Gedanken versuchte ich mich zu beruhigen, doch ich merkte, wie die Öffnung der Sanduhr sich vergrößerte - der Sand floss nun immer schneller auf den Boden. Uns lief die Zeit davon.

,,Ich werde immer an deiner Seite sein, hörst du? Ich bin dein Rückenwind, der dich nach vorne treibt und dir Stärke gibt, wenn du dich verloren fühlst.''

Jetzt würde ich immer daran denken müssen, wenn der Wind mir in den Rücken peitschte, dass er es sein würde, der mich antrieb.

,,Aber du bist nicht mehr da. Es wird nie genug sein'', antwortete ich und ließ den Schmerz, der meinen Körper befiel, zu. Es würde nie genug sein.

,,Nur weil du mich nicht sehen kannst, heißt das nicht, dass ich nicht da bin. Ich werde immer bei dir sein. Hier drin'', betonte er und tippte mit seinem Finger auf mein Herz, das sich unter seiner Berührung schmerzlich zusammenzog.

,,Kannst du Mom und Dad sagen, dass ich sie vermisse?'', wisperte ich mit bebenden Lippen, während neue Tränen in mir aufstiegen.

,,Das werde ich.''

,,Wirst du auf mich aufpassen, wenn der Nachthimmel dein neues Zuhause geworden ist?''

,,Ich werde immer auf dich aufpassen, egal, wo ich bin.''

,,Versprichst du mir etwas?'' Sein einfühlsamer Blick lag auf mir. Die Intensität seiner bernsteinfarbenen Augen brannte sich in mein Gedächtnis ein. Ich wollte ihn halten. Aber ich konnte nicht.

,,Bitte weine nicht, wenn es so weit ist. Du weißt, wie sehr es mich schmerzt, wenn du traurig bist. Ich kann nicht gehen, wenn ich weiß, dass du daran zerbrechen wirst. Ich wünsche mir, dass du dein Leben in vollen Zügen genießt. Gib nicht auf. Sei mutig. Atme. Renne, bis du nicht mehr kannst, spring von Klippen ins Meer, auch wenn du Angst hast. Verfolge deine Ziele. Umgib dich mit Menschen, die dich zum Lächeln bringen. Gib nicht auf.''

Auch wenn sich alles in mir widerstrebte, nickte ich. ,,Das werde ich.'' Es war, als würde eine Last von seinen Schultern fallen. Genauso sollte es sein. Ich würde ihn nicht mehr anflehen, zu bleiben. So würde ich es für ihn nur noch schwerer machen, zu gehen. Er musste nicht wissen, welcher Sturm in mir tobte und wie groß meine Angst vor der drohenden Dunkelheit war.

,,Ich bin so stolz auf dich und auf das, was du alles geschafft hast.''

Er nahm meinen Kopf in seine Hände und legte seine Stirn an meine. Kopf an Kopf. So wie wir es früher immer getan hatten. Ich schloss die Augen und prägte mir diesen Moment ein. Für die Ewigkeit.

,,Ich kann nun beruhigt gehen'', flüsterte er und ich widerstand dem Drang, heftig den Kopf zu schütteln oder ihm zu widersprechen. Nein. Das kannst du nicht. Doch er konnte mein Flehen nicht hören. Ich ließ es nicht zu.

,,Ich weiß, dass du gut auf dich aufpasst. Du wirst ein erfülltes Leben führen, so wie es immer sein sollte. Auch wenn ich nicht mehr an deiner Seite sein kann, wirst du deinen Weg finden. Du wirst dich verirren und verlieren, aber am Ende wirst du all den Schmerz hinter dir lassen können. Meine kleine Schwester ist so stark.''

Das war ich nicht. Im Gegenteil. Im Moment setzte ich alles daran, nicht zu zerbrechen.

,,Kannst du mir einen letzten Wunsch erfüllen?''

Das Flehen in seinen Augen ließ mich innehalten. Mein Körper bebte noch immer unaufhaltsam. Die Kälte nahm Besitz von mir. Und so schnell war ich wieder da, in meinem eigenen kleinen Alaska.

Ein letzter Wunsch.

Das war es, was er wollte. Wer war ich, dass ich ihm diesen Wunsch verweigern könnte.

,,Alles'', hauchte ich, während er sich auf die Seite rollte, um mir direkt in die Augen zu schauen.

,,Kannst du bei mir sein, wenn ich meinen letzten Atemzug mache? Ich möchte nicht allein sterben, so wie Mom und Dad.''

Ich kämpfte gegen mich und die aufkommenden Tränen an. Fest biss ich die Lippen aufeinander, sodass ich nach wenigen Sekunden Blut schmeckte. Meine Fingernägel schnitten in meine Haut. Ich blinzelte und vermied es, in seine Augen zu sehen, die in einem Meer aus Traurigkeit, Angst und Hilfslosigkeit versanken.

Ich konnte das Zittern in meiner Stimme nicht verhindern, als ich meine Hand an sein Gesicht legte und ihm versprach, bei ihm zu bleiben.

,,Komm her'', bat er mich und breitete seine Arme aus.

Wie viel Zeit würden wir noch zusammen haben?

Ich kuschelte mich an ihn. Er hielt mich fest.

Ich lauschte seinen Atemzügen.

Beobachtete, wie sich seine Brust unter Anstrengung hob und senkte.

Ich erinnere mich nicht, wie lange ich ihn ansah. Er hatte die Augen geschlossen. Doch seine Hand malte kleine Kreise auf meinem Arm.

Und während mein Bruder mir sanft über den Kopf streichelte, fielen mir langsam die Augen zu.

Ohne zu wissen, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich sein Herz schlagen hörte.

Ihr Lieben. An dieser Stelle wollte ich mich gerne noch einmal persönlich zu Wort melden. Einige von euch haben es bestimmt schon geahnt, dass Evan es nicht schaffen wird. Ich kann verstehen, wenn ihr traurig und enttäuscht seid. Ihr glaubt nicht, wie oft ich nachts wach gelegen habe und wirklich über mehrere Monate überlegt habe, wie Evans Schicksal aussehen wird. Doch es gab da diesen einen Moment, als ich mitten in der Uni saß und da wusste ich es. Evans Schicksal war es zu sterben. Nur hatte er noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, bevor er ging. Er hatte noch einmal die Gelegenheit Zeit mit Aza zu verbringen und er konnte sich verabschieden. Etwas, dass Azas Eltern nicht vergönnt war. Sein Tod war die schwierigste Entscheidung, die ich in diesem Buch getroffen habe und doch bereue ich sie nicht. Ich habe Tränen in den Augen, weil ich ihn gehen lassen muss und ich weiß, was sein Tod für Aza bedeutet und wie ihr Leben weitergehen wird. Wenn ihr etwas auf dem Herzen habt, könnt ihr das gerne mit mir teilen. Ob als Privatnachricht oder hier unter den Kommentaren. Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn ihr mir kurz eine kleine Rückmeldung geben würdet. Da ich mir unsicher bin, inwieweit es mir gelungen ist, euch zu berühren bzw. die nötigen Emotionen herüberzubringen.

Ich bedanke mich schon einmal im Voraus bei euch allen. Ein großes Dankeschön auch an die stillen Leser <3 Es geht mir jedes Mal das Herz auf, dass andere Menschen noch immer Aza auf ihrer langen Reise begleiten. Das bedeutet mir unfassbar viel.

Wir sind fast am Ende von Azas und Ravens Geschichte angekommen. Nur noch vier Kapitel und ein Epilog werden folgen.

Fühlt euch gedrückt.

Eure Storm <3

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