Netz aus Lügen

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Allana

Ich konnte es noch immer nicht fassen. Jaime war fort. Draco war fort. Alles erschien grau und leblos.
Ich holte zittrig Atem.
Da waren diese Bilder, die vor meinem inneren Auge aufstiegen.
Nein. Keine Bilder.
Bilder würden bedeuten, dass ich Jaimes Tränen gesehen hatte, gesehen hatte, wie er sich vergeblich gegen den Griff der Todesser gesträubt hatte und gesehen hatte, wie das Dunkle Mal auf seinen Arm gebrannt wurde.
Ohne Zweifel war es das, was die Anwesenden wahrgenommen hatten. Der Blick auf die Oberfläche, wie durch eine Kamera aufgenommen. Aber das war nur ein Schatten, eine gesichtslose Figur. Um die Person zu sehen, die illuminierten Gesichtszüge meines Bruders zu erfassen, musste man tiefer gehen.
Unter die Haut.
Im Nachhinein hatte ich mir gewünscht, es nicht getan zu haben.
Ich hatte all seine Emotionen gespürt,  diese geballte Verzweiflung, die ohnmächtige Hilflosigkeit, diese ganze Zerstörung seines Selbst, so allumfassend, dass ich mich darin verloren hatte.
Ich hatte die Augen geöffnet und nicht gewusst, wo ich war.
Und dann war die Realisation über mich hineingebrochen wie eine eiskalte Welle: Jaime war fort.
Damit waren die Tränen und die bitteren Vorwürfe gekommen. Ich hatte ihn nicht retten können. Und jetzt war seine gesamte Existenz zu Scherben zersprungen. Genau wie auch meine. Unser aller.

Irgendwann waren die Tränen versiegt und ich hatte es geschafft mich aufzurappeln.
Zum Fenster zu gehen.
Und jetzt umklammerte ich Halt suchend die Kanten der Fensterbank und blickte hinaus.
Dumbledores Leichnahm lag auf dem stoppeligen Gras. Sein Körper hob sich kaum von der Dunkelheit um ihn herum ab, doch ich wusste, er war da. Ich hatte selbst gesehen, wie der Schulleiter, bereits tot, von Snapes Fluch über die Zinnen geschleudert wurde.
Mehrere matt glühende Lichter bewegten sich in mehreren Metern Entfernung um ihn herum und ich erkannte, dass es Zauberstäbe waren, gehalten von Schülern und Lehrern gleichermaßen, die nicht begreifen konnten, dass Dumbledore tatsächlich tot war ...
Ich öffnete geräuschlos das Fenster und konnte Wehklagen und Schluchzen vernehmen. Sie alle trauerten um Dumbledore, weinten um den Mann, der ein Freund oder ein Mentor gewesen war.
Ich selbst fühlte mich merkwürdig starr. Ich hatte bereits um Jaime geweint, hatte scheinbar all meine Tränen für ihn verbraucht. Es erschien mir nicht richtig, jetzt für Dumbledore zu weinen.
Ich hatte aktiv geholfen, seinen Tod zu planen, indem ich Draco bei der Reparatur des Verschwindekabinetts unterstützt hatte, wohlwissend, was darauf geschehen würde. Und Dumbledore ... seit er Jaime verdächtigt hatte, war der Schulleiter eine große Gefahr für uns gewesen. Doch jetzt war die Wahrheit auch so ans Licht getreten.
Dumbledores Tod markierte ein neues Zeitalter. Jahrelang war er die einzige Person gewesen, die zwischen Voldemorts Herrschaft über Großbritannien stand.
Heute hatten sich die Kräfteverhältnisse entscheidend verschoben. Hogwarts war nicht mehr sicher. Seit einem Jahr wussten wir bereits, dass auch das Ministerium nicht mehr sicher war. Es gab keine Instanz mehr, die Voldemort aufhalten könnte.
Nicht mehr.
Und mir schien, als würde das immer leiser werdende Wehklagen in der Finsternis unter mir bald ein Sinnbild für die ganze magische Gesellschaft Großbritanniens sein.

Kaum einer schlief in dieser Nacht. Harry und Hermine hatte ich gar nicht gesehen, nur einen kurzen Blick auf Rons roten Haarschopf hatte ich eine Sekunde lang im Gemeinschaftsraum erhascht.
Ich selbst hatte wach gelegen, meine Gedanken waren um meinen Bruder gekreist. Horrorszenarien seiner Gefangenschaft oder noch schlimmer, seines Todes, waren durch meinen Kopf gegeistert wie ein lauerndes Ungeheuer. Würde ich ihn überhaupt jemals wiedersehen? Konnte ich ihn finden? Hatte er womöglich das Land verlassen oder versteckte er sich, ganz allein?
Ich schloss die Augen und drängte die Tränen zurück, die bei diesen Gedanken in mir aufkamen.
Da war sie wieder. Diese schleichende Hilflosigkeit. Wie Nebel, der sich vor mein Blickfeld legte.
Was kann ich schon tun?
Als Jaime im Kerker gewesen war, war er zumindest in greifbarer Nähe gewesen. Dort hatte es noch ein klares Problem gegeben, das man angehen konnte.
Doch nun ... Ich hatte keinen einzigen Anhaltspunkt, keinen Plan, kein Garnichts!
Ich presste die Augen zusammen. Ein Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet. Ich schnappte zittrig nach Luft.
Weder Jaime noch Draco waren hier. Beiden hatte ich mich anvertrauen können, beide wussten, wer ich war, wer ich wirklich war, hinter dieser Fassade.
Und nun waren die einzigen Personen, die mich wahrhaftig verstanden, fort.
Und zurück blieb nur Leere.

Seine Erben (2)Tempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang