Bloßgestellt

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Jaime

,,Es war Ginny."
Ich hob nicht den Kopf, sondern ließ den Blick weiterhin auf meinen Turnschuhen ruhen. Sie waren schon ganz staubig geworden. Ich fingerte ein wenig an den Schnürsenkeln herum und wischte mit dem Daumen etwas Dreck von dem Stoff.
Das es Ginny gewesen war, war für mich natürlich unglaublich verheerend, andererseits war es durchaus zu erwarten gewesen.
Ich seufzte leise.
Und doch ... obwohl es logisch gewesen war, dass Ginny mich gesehen hatte, war es das gleichzeitig Schlimmste, was mir hätte geschehen können: Ginny verabscheute und fürchtete mich wie kein anderer und außerdem war sie eine der wenigen, die wussten, wie sehr ich Tom Riddle ähnelte. Es hätte wirklich nicht schlimmer kommen können. Und all dies nur, weil Harry sich dazu entschieden hatte, einen kleinen Mitternachtsspaziergang zu unternehmen!
,,Sie sind übrigens jetzt zusammen. Harry und Ginny, meine ich."
,,Schön für sie." Meine Stimme klang heiser und voller Bitterkeit.
,,Und ... Jaime, ich habe wirklich versucht, dich mittels Legilimentik zu kontaktieren, aber ... ich weiß auch nicht ... es scheint Zauber in der Zelle zu geben, die das verhindern."
Ich zuckte nur die Schultern. Auch das hatte ich erwartet. Die Auroren hatten sich keine Fehler erlaubt. Bei so einem "Fang" wie mir, könnte das katastrophale Auswirkungen haben, war doch Voldemort selbst offenbar ein Meister der Legilimentik. Es war wirklich alles besorgniserregend gut durchdacht.
Es war jetzt fünf Tage her, dass man mich in eine der unbenutzten Zellen im Kerker geworfen hatte. Die ersten Stunden hatte ich geschriehen und voller Wut gegen die Tür gehämmert, bis meine Knöchel blutig gewesen waren. Doch kein Toben und kein Rufen hatte geholfen und so hatte ich mich schließlich ermattet auf den steinernen Boden sinken lassen und den Hinterkopf gegen die kalte Wand gelehnt.
Fünf lange Tage lang war ich völlig von der Außenwelt abgeschnitten gewesen, ohne eine Chance mich zu beschäftigen oder mit jemanden Konversation zu führen. Vor drei Tagen hatte ich den kläglichen Inhalt meiner Taschen geleert und an den Fäden und Papierschnipseln herumgebastelt.
Vor zwei Tagen hatte ich angefangen mit einem kleinen Stein zu spielen. Ich hatte ihn immer wieder hochgeworfen und außerdem einige Tests durchgeführt, um die Flugbahn zu berechnen. Noch war ich ohne Erfolg, aber ich plante, mich morgen weiter mit diesem Experiment zu beschäftigen.
Gestern hatte ich angefangen, Selbstgespräche zu führen. Als ich mich dabei ertappt hatte, hatte ich mich selbst dafür gerügt. Nur um dann festzustellen, dass auch dies nur eine Konversation mit mir selbst war.
Ich war zu dem Schluss gekommen, dass jedliches Kopfzerbrechen über diese Situation nichts bringen würde und hatte damit begonnen, alte Muggellieder zu singen. Nur um dann festzustellen, dass ich den Text nur bestenfalls bruchstückhaft beherrschte. Deshalb hatte ich mich später dazu entschlossen, einfach zu schlafen.
Allanas klägliches Räuspern holte mich zurück in die Wirklichkeit. ,,Und da gibt es noch eine schlechte Nachricht ..."
Ich vergrub genervt den Kopf in den Händen und atmete tief durch. ,,Du vermagst es wirklich meine Laune noch weiter zu verschlechtern."
,,Lass deine Kommentare und hör zu!", meinte Allana plötzlich barsch und ich hob überrascht den Blick. Merlin, die Information musste wirklich wichtig sein.
Erst jetzt wurde mir bewusst wie ausgelaugt meine Schwester aussah: Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen und ich erkannte auch, dass sie rot und geschwollen waren. Sie sah so bleich aus und ihre Wangen waren hohl. Hatte sie in den letzten Tagen überhaupt etwas gegessen?
Wie waren die letzten Tage wohl für sie gewesen? Hatte die schiere Ungewissheit wie ein Parasit an ihr genagt? Hatte sie jeden Tag in der großen Halle nach mir Ausschau gehalten, nur um dann festzustellen, dass ich nicht da war? Hatte sie sich verzweifelt gewünscht mit jemanden zu sprechen, aber gewusst, dass sie ihre Geheimnisse wie hinter einer Maske verbergen musste? Genau wie ihre Sorgen? Ihre Furcht? Ihre Angst?
,,Verzeih mir, Al", murmelte ich und war plötzlich nur noch unendlich müde. ,,Ich habe nicht nachgedacht."
Sie seufzte und ließ sich neben mir nieder. Ich legte den Kopf auf ihre Schulter. ,,Also, was ist es?", nuschelte ich und schloss die Augen. Es wird schon nicht so schlimm sein.
,,Harry hat die Erinnerung bekommen."
Mit einem Satz war ich auf den Beinen. ,,Was?!" Jegliche Müdigkeit fiel augenblicklich von mir ab. ,,A-aber- meintest du nicht- ich dachte-" Ich stockte ein weiteres Mal und fuhr mir verzweifelt durch die Haare. ,,W-wie konnte das geschehen? Du meintest, Slughorn würde sie Harry unmöglich geben ..."
,,Ich meinte, er bräuchte dafür unwahrscheinlich viel Glück-"
,,Das ist doch das Gleiche!"
Allana schüttelte den Kopf. ,,Nein, denn Harry hatte tatsächlich pures Glück."
Mir entging ihre offensichtliche Betonung nicht, jedoch wusste ich nicht, was sie damit andeuten wollte. Ich starrte sie an.
,,Er hat den Felix Felicis eingesetzt, erinnerst du dich noch daran? Es ist soviel wie-"
,,Flüssiges Glück", brachte ich hervor. Meine Lippen fühlten sich merkwürdig taub an und ich ließ mich erschöpft wieder zu Boden sinken.
,,Ginny hat sich nur an dich erinnert, weil Harry den Trank eingesetzt hat", fuhr Allana dumpf fort. ,,Er hatte an diesen einen Abend wirklich in allen Bereichen Erfolg."
Und binnen weniger Stunden meine gesamte Existenz zerstört.
Ich atmete schwer aus. ,,Ich nehme an, er hat sie Dumbledore gegeben?"
Allanas darauffolgendes mutloses Schweigen sagte mehr als tausend Worte.
Nun wussten Dumbledore und Harry also endlich Bescheid. Wir oder die Horkruxe. Nur dann konnte Voldemort sterben.
Beziehungsweise ... Harry und Dumbledore wussten nur von mir, also ... Mein Herz begann unregelmäßig zu pochen. Ich oder die Horkruxe.
Es war nun auch bekannt, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach sieben Horkruxe gab. Harry und Dumbledore wussten von der Zerstörung zweier, Allana und ich hatten einen dritten im Sommer zerstört. Und die anderen waren bisher unauffindbar.
Ich hingegen war gefangen und in erreichbarer Nähe ... wie auf dem Präsentierteller ...
Aber sie würden gewiss nicht versuchen mich zu töten ... Dumbledore hatte sich im letzten Jahr um Ministerium selbst davon abgehalten ...
Doch was, wenn es keinen anderen Ausweg gab? Wenn die Gefahr durch Voldemort zu groß wurde und die Horkruxe weiterhin gut versteckt waren? Wie weit würde man gehen, um tausende Menschen zu retten?
Und Harry ... er hatte mich noch nie gemocht und mir stets misstraut. Jetzt, wo die Wahrheit so gut wie ans Licht gekommen war, würde er mich verabscheuen ... denken, ich wäre ein Verbündeter Voldemorts ... des Mannes, der seine Eltern ermordet hatte ...
Mir wurde kurz schwindelig und ich presste die Handflächen an meine pochenden Schläfen.
,,Noch etwas?", würgte ich hervor.
Als Antwort zog Allana zögerlich einen zerfledderten Zeitungsartikel aus ihrer Tasche hervor.
,,Bei Merlin", hauchte ich kraftlos. ,,Haben Sie wirklich-?"
Allana schniefte und holte zitternd Luft. ,,Es- es tut mir leid, Jaime. Sie haben deine Gefangennahme veröffentlicht. In ganz Großbritannien."

Seine Erben (2)Where stories live. Discover now