Nach der Tat

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Jaime

Ich stolperte die Treppenstufen nach oben und fiel mehrmals beinahe hin. Es war als wären meine Beine aus Pudding und meine schwitzigen Hände zitterten und rutschten immer wieder am Geländer ab.
Immer wieder und wieder erschien Dracos blutüberströmter Körper vor meinem inneren Auge, die klaffenden Schnitte in seiner Brust ... das Blut, das sein Hemd rot färbte und sich auf grausige Art mit dem Wasser vermischte ... seine blicklosen Augen ...
Ich umklammerte das Geländer mit aller Kraft, sodass meine Knöchel weiß hervortraten.
Ich habe geglaubt, Draco wäre tot ... dass jemand - Harry! - meinen besten Freund getötet hat ... Merlin, wenn Draco wirklich gestorben wäre-
Meine Vorstellung versagte an dieser Stelle und ich unterdrückte mit Mühe den Würgereiz, der in meiner Kehle aufstieg.
Und ich ... ich wusste nicht, was passiert wäre, wenn Allana mich nicht aufgehalten hätte. Ich war wie in einem Rausch gewesen. Ein tödlicher Rausch aus Raserei, Macht und Magie.
Ich schüttelte mich. Nein, ich will jetzt nicht darüber nachdenken. Ich darf es nicht. Ich hätte Harry töten können ... Ein Schauer lief meinem Rücken hinab und ließ mich erzittern.
Was hast du getan? Was hast du getan? Washastdugetan?
Ich biss die Zähne zusammen und drückte mir die Hände an die Schläfen.
Der Rest des Weges verging als wäre ich in einer Art Trance gefangen. Wie betäubt setzte ich einen Fuß vor dem anderen, meine Gedanken stoben umher und wirkten doch irgendwie dumpf und farblos ...
Ich blickte auf meine Hände hinab. Dreck haftete an ihnen. Und Blut. Mein Sichtfeld begann zu flackern. War das mein Blut?
Dracos?
Harrys?
Zitternd wischte ich meine Hände an meinem Hemd ab, aber es geht nicht ab!
Bestimmt war da noch mehr Blut auf meiner Kleidung, auf meiner Haut,  in meinen Haaren ... Ich fühlte mich schmutzig.
Mit fahrigen Bewegungen bahnte ich mir weiter meinen Weg zum Büro des Schulleiters. Einige wenige Schüler kreuzten meinem Weg und ich sah, dass sie erstarrten, sie rissen die Augen auf, sie tuschelten hinter hervorgehaltener Hand, sie deuteten mit den Fingern auf mich, schnappten geschockt nach Luft-
Endlich erreichte ich Dumbledores Büro. Ich ballte die Hand - und bemerkte, dass meine Knöchel aufgeschrammt waren - zur Faust und klopfte.
,,Herein", hörte ich Dumbledores ruhige Stimme und schluckte ein letztes Mal. Dann trat ich ein.
Mir war nur allzu gut bewusst, was für ein erschreckendes Bild ich wohl gerade abgeben musste: Mein Hemd war an einigen Stellen zerissen und mit Dreck übersäht, meine Haare waren nass und hingen mir ungeordnet in der Stirn, mein Gesicht war mit Kratzern überzogen und meine Handflächen blutig.
Als Dumbledore mich erblickte, weiteten sich seine Augen abrupt vor ... - war das Besorgnis??
,,Darf- dürfte ich mich setzen, Professor?", würgte ich hervor und ohne wirklich Dumbledores Antwort abzuwarten, schleppte ich mich eilig zu dem Stuhl vor seinem Schreibtisch und sank darauf nieder.
Auf einmal fühlte ich mich nur noch erschöpft. Ich schloss für einen Moment lang die Augen und atmete tief durch. Als ich diese wieder öffnete, bohrten sich Dumbledores blaue Augen in die meinen.
,,Mr Gaunt, was ist geschehen?"
Ich öffnete den Mund. Was ist geschehen? Ich begann unter Dumbledores stechenden Blick förmlich zusammenzuschrumpfen. ,,Ich- S-Snape schickt mich ... ich sollte zu Ihnen gehen, meinte er- Es gab ein Duell im Bad ... Harry u-und Draco und-"
,,Mr Gaunt, beruhigen Sie sich", sagte Dumbledore mit erstaunlich sanfter Stimme. ,,Holen Sie tief Luft und kommen Sie zu Atem."
Ich atmete zitternd ein und fuhr mir mit der Hand über das Gesicht ... mit den blutigen Händen, wie mir einen Augenblick später klar wurde. Ich schmeckte den metallenen Geschmack auf meiner Zunge ...
Mein Ekel und meine Panik mussten mir wohl deutlich ins Gesicht geschrieben sein, denn Dumbledore schwang kurz den Zauberstab und im nächsten Moment merkte ich, dass der Großteil des Schmutzes von meinem Gesicht verschwand.
,,Danke", nuschelte ich.
Dumbledore lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. ,,Fühlen Sie sich gut genug, um zu beginnen?"
Ich brachte ein Nicken zustande. ,,A-Also ... Allana und ich- wir saßen am Frühstückstisch und- es war einfach nur ein normales Frühstück ... Ich habe Draco gesucht ... i-ich wollte etwas mit ihm besprechen, aber er war plötzlich weg ... Natürlich ging ich ihn suchen ..."
Dumbledore nickte und ermutigte mich mit einer knappen Handbewegung fortzufahren.
,,Ich ging in den Flur. Dort habe ich Geräusche wie von einem Kampf vernommen, a-also bin ins Bad-" Ich stockte, als sich erneut Dracos lebloser Körper in meinen Kopf einbrannte. Ich presste die Augen zusammen.
,,Was ist dann passiert?", hörte ich Dumbledores Stimme verzerrt, wie durch eine Wand aus Wasser. Sie hatte an Intensität gewonnen, nahm ich unbewusst wahr. ,,Mr Gaunt, ich kann Ihnen nur helfen, wenn Sie mir sagen, was passiert ist."
Helfen. Ein fahler Geschmack bildete sich in meinem Mund und ich schnaufte bitter. ,,Professor, Sie können mich nicht leiden. Warum sollten Sie mir helfen wollen?"
,,Mit dieser Annahme liegen Sie bedauerlicherweise falsch, Mr Gaunt. Sie sind ein intelligenter, begabter junger Mann und dafür haben Sie meinen Respekt."
Ich blickte auf. Hatte ich gerade richtig gehört??
Dumbledore schenkte mir nur ein mildes Lächeln. ,,Ich schätze Sie durchaus. Aber ich vertraue Ihnen nicht, Jaime."
Das hatte gesessen. Und ich musste zugeben, ich konnte es nachvollziehen.
Ich begnügte mich deshalb mit einem Schnauben.
Nur zu gern würde ich nun die Ereignisse mit kühler, teilnahmsloser Stimme gefasst vortragen, aber ich konnte es nicht. Der Schock saß noch zu tief. Und so rutschte die Maske immer wieder von meinem Gesicht. Ich räusperte mich. ,,Ich war im Bad. Harry war dort mit dem Zauberstab in der Hand. Und ... und D-draco- er, er ... er lag auf dem Boden. Voller Blut. Ohne sich zu regen." Ich schüttelte mich. ,,Ich dachte- ich dachte, er- er wäre tot."
,,Und dann?", fragte Dumbledore leise.
Was ist dann geschehen? Es war nicht in Worte zu packen. Es war mir noch immer so unbegreiflich und zu erschreckend und doch ... Ein Begriff schien zu passen.
,,Ich bin ausgerastet."
,,Ausgerastet."
,,Ja."
,,Können Sie diesen Begriff etwas genauer umschreiben?"
Ich räusperte mich und langsam begannen meine Gedanken klarer zu werden. Ein Teil von mir wollte Dumbledore unter keinen Umständen erzählen, was geschehen war. Sicherlich fielen ihm so nur wieder Parallelen zu Voldemort ein oder ich würde eine Strafe bekommen, weil ich seinen Liebling Harry Potter angegriffen hatte. Aber vielleicht war Dumbledore der einzige, der verstehen konnte, was genau geschehen war. Der einzige, der - und ich knirschte mit den Zähnen - mir helfen konnte.
,,I-Ich habe rot gesehen. Ich meine- ich war einfach so wütend- Draco war scheinbar von Harry ge-getötet worden und dann ... ich habe Harry mit allem angegriffen, was ich hatte."
,,Mit allem?"
,,Mit meiner gesamten Magie."
Dumbledore musterte mich kurz, dann nickte er schweigend. ,,Ich verstehe", meinte er dann schließlich. ,,Du hast die Kontrolle verloren."
Ich blinzelte.
,,Es ist eigentlich nichts Besonderes", fuhr Dumbledore fort, ,,nur etwas ungewöhnlich, vor allem, wenn man dein Alter und deine magischen Fertigkeiten bedenkt. Diese ... "Ausraster" wie du es nennst, erscheinen häufig bei jüngeren Zauberern ohne besondere magische Ausbildung und aufgrund von ... emotional belastenden Ereignissen." Einen Augenblick lang schien Dumbledore in Gedanken versunken zu sein. ,,Es könnte daran liegen, dass du zu spät eingeschult wurdest ... deine Kräfte konnten sich so unbegrenzt und unkontrolliert weiter entwickeln ... Selbstverständlich gibt es noch viel schlimmere Auswirkungen, die so ein Versäumnis haben kann, du kannst dich also glücklich schätzen."
Ich brachte ein gezwungenes Lächeln zustande.
,,Ist noch etwas geschehen?"
Ich wusste, worauf Dumbledore anspielte: Wie hatte ich mich wieder beruhigen können? Was war mit Harry? Und was hatte Snape mit dem Vorfall zu tun?
Wichtig war, dass ich auf keinen Fall Allanas Legilimentik erwähnen durfte, denn so würde nicht nur ich, sondern auch meine Schwester im Mittelpunkt von Dumbledores Aufmerksamkeit stehen. Und das durfte nicht geschehen.
,,Also ... Allana wusste, dass ich Draco suchen wollte und natürlich ist sie mir gefolgt. Sie- sie hat es geschafft mich zu überraschen ... hat mich mit einem Zauber überrumpelt. Ich bin zusammengeklappt und sie hat auf mich eingeredet ... sie meinte, Draco wäre nicht wirklich tot ... und dann kam Snape und hat ihn in den Krankenflügel gebracht."
Das war sogar fast die ganze Wahrheit gewesen, fiel mir auf.
Gleichzeitig musste ich an Dumbledores Worte denken. Welche Ereignisse könnten einen weiteren Ausraster von mir herbeiführen? Nein, das war die falsche Frage. Welche Personen standen mir so nah, dass es in einer Katastrophe enden würde, sollten mir diese gewaltsam genommen werden?
Die Antwort auf diese Frage konnte ich an einer Hand abzählen: Draco. Hermine. Allana.
Ich raufte mir die Haare. Als ich Dumbledores Worte über diese Ereignisse, die einen "Kontrollverlust" herbei führen konnten, gehört hatte, waren meine Gedanken automatisch zu diesen einen Tag im Ministerium gewandert. Sirius war dort gestorben. Ich selbst hatte seinen Tod nicht mitansehen müssen und auch erst später davon erfahren, Allana hingegen ... Sie hatte mir später nur knapp davon erzählt, aber ich erinnerte mich nur allzu gut an Voldemorts Worte über Allana: "Ihre Kenntnisse der Legilimentik sind zwar noch nicht weit fortgeschritten, dennoch hat sie nahezu reflexartig den Geist dreier meiner Todesser durchbrochen ..."
Reflexartig ... ,,Professor, würde nicht der Begriff instinktiv besser passen als unkontrolliert?", hörte ich mich sagen.
Dumbledore hob eine graue Braue und seine hellen Augen verharrten kurz auf meinem Gesicht. ,,Ich denke, das können Sie besser beurteilen als ich."

Seine Erben (2)Where stories live. Discover now