Ich soll keine Lügen erzählen

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Allana

Ich trommelte genervt mit den Fingerspitzen auf den Tisch.
Trelawneys Unterricht war wie immer langweilig und genauso wirksam wie eine Schlaftablette. Schon jetzt merkte ich, dass ich in einen dämmrigen Zustand verfiel, der von der schweren Luft noch einmal besonders verstärkt wurde.
Ich legte meinen Kopf so auf die Tischplatte, dass man beinahe annehmen könnte, ich würde angestrengt in die waberige Kristallkugel schauen, und schloss die Augen.
Mein Halbschlaf wurde jäh unterbrochen, als mich jemand vorsichtig antippte. Ich zuckte hoch und schlug der Person blindlings auf die Hand.
,,Aua."
Ich riss die Augen auf, als ich Dracos Stimme vernahm. Er sah mich mit leicht zur Seite geneigten Kopf an. Seine Augen funkelten amüsiert.
Ich tat mein Bestes, um meine zerzausten Haare wieder halbwegs in Form zu bringen und hüstelte verlegen. ,,Sorry ... hast mich erschreckt."
Seine Lippen hoben sich. Ich wurde rot.
,,Also ... ich wollte dir nur sagen, dass Potter und Jaime im Krankenflügel sind. Die beiden haben sich heute morgen ziemlich heftig geprügelt, wie ich gehört habe."
Jaime und Prügelei? Das passte nicht wirklich zu meinem eigentlich eher besonnenen Bruder ... ganz im Gegenteil zu mir.
Ich runzelte besorgt die Stirn. Es gab bestimmt einen Grund, warum er so reagiert hatte. Und warum konnte sich Harry nicht einfach mal zurückhalten?! Er war einfach viel zu impulsiv. Ich wettete, dass Jaime Harry wiedereinmal fleißig provoziert hatte. Ja, das paaste schon eher zu meinen Bruder. Ich kam prompt zu einer Entscheidung: Ich muss wissen, ob bei ihm alles in Ordnung ist ...
Seufzend packte ich meine Sachen zusammen.
,,Wo willst du hin? Wir haben Unterricht", meinte Draco fragend.
,,Es ist nur Wahrsagen", winkte ich ab. ,,Trelawney kennt noch immer nicht einmal meinen Namen, also ..." Ich zuckte die Schultern. ,,Ich werde mich mal vergewissern, dass die beiden sich im nächsten Moment nicht wieder an die Gurgel gehen. Wenn sie das nicht schon bereits getan haben."
Trelawney trippelte gerade zu einer übermäßig begeisterten Lavender Brown, die strahlend auf das dunstige Gemisch in ihrer Kristallkugel deutete. ,,Professor Trelawney, schauen Sie, da drin bildet sich gerade die Gestalt eines Hundes!"
Trelawney blickte lächelnd durch ihre fetten Brillengläser. ,,Ja, meine Liebe, das ist richtig, aber jetzt dürfen Sie die Schwingungen nicht trüben ..."
Auf leisen Sohlen schlich ich mich zur Falltür und öffnete diese lautlos.
,,Bis morgen dann", meinte Draco flüsternd und zwinkerte mir zu.
Warum Morgen, da ist doch Wochenende, also kein Unterri-
Mein Mund klappte auf. Ach so. Wochenende. Hogsmeade. Wir beide zusammen. Verdammt, verdammt, wie soll ich das denn schaffen, ohne mich vollkommen zu blamieren?!
Ich kletterte durch die geöffnetete Klappe im Boden und hetzte in Richtung Krankenflügel.

Keuchend und nach Luft schnappend erreichte ich Tür zum Krankenflügel. Ich war den gesamten Weg über gerannt und mit einer Tasche voller Bücher war das ganz sicher kein Zuckerschlecken. Ich muss eindeutig mehr Sport treiben, dachte ich, während ich mir die Seiten hielt.
Vorsichtig öffnete ich die Tür, bereit gleich in einen Hagel aus Beleidigungen zu treten, mit denen sich Harry und Jaime gegenseitig bedachten. Aber glücklicherweise war es ruhig. Ich lugte in den Raum. Zwei Krankenbetten waren an den beiden Wänden gegenüber einander aufgestellt. In jedem von ihnen saß ein Schüler. Jaime und Harry. Beide besaßen schwarze Haare, waren beide relativ schlank und groß. Auch ihr Hautton war von ähnlich bleicher Farbe. Hier hörten die Ähnlichkeiten jedoch auch schon auf. Jaimes Haar war länger als Harrys und bei weiten nicht so zerstrubbelt. Jaime besaß graue Augen, Harrys waren von einem seltenen grün. Über Harrys Bettgestell hing eine rote Krawatte, bei Jaime hingegen eine Krawatte von grüner Farbe. Dieser las mit leicht gerunzelter Stirn ein vergilbtes Buch, während Harry seine Hausaufgaben für Verwandlung auf Pergament kritzelte. Jaimes Mundbereich war geschwollen, während Harry eine dicke Beule auf der Stirn gleich neben seiner Blitznarbe aufzuweisen hatte. Aber glücklicherweise entdeckte ich bei keinen von beiden ernsthafte Verletzungen. Ich atmete erleichtert auf.
Beide hoben die Augen, als ich die Tür schloss. Ich spürte ihre Blicke unangenehm auf mir ruhen.
Ich sollte froh sein. Beide leben noch, anstatt sich gegenseitig massakriert zu haben. Das ist doch wenigstens ein Anfang.
,,Er hat mich provoziert!", platzte es dann plötzlich aus Harry heraus und er deutete wütend mit dem Finger auf meinen Bruder. Dieser hob nur seufzend in einer beschwichtigenden Geste die Hände. ,,Im Nachhinein muss ich zugeben, dass dies nicht meine beste Idee gewesen war. Zufrieden?" Gleichzeitig rollte er die Augen. ,,Ich bin schon genug gestraft, dass ich mit dir in einem Raum sitzen, und heute Abend noch bei Umbrigde nachsitzen muss."
Ich bemerkte, dass Harry sich bei Umbrigdes Erwähnung verstohlen die Hand rieb. ,,Willkommen im Club."
Nachsitzen bei Umbrigde? Das war es doch genau, was Jaime eigentlich verhindern wollte: Auffallen. Zu einer Akte werden.
Ich sah meinen Bruder mahnend an. Er wich meinem Blick jedoch nur stur aus.
Manchmal verhielt er sich wirklich wie ein kleines, schmollendes Kind!
Ich beschloss noch einmal morgen früh mit ihm zu sprechen. Scheinbar zog er es gerade vor, sich in Schweigen zu hüllen. Und es hatte keinen Sinn, ihn Fragen zu stellen, auf die er ohnehin nicht antworten würde.
Morgen war auch kein Harry da, der mithören und unangenehme Fragen stellen konnte. Ich schenkte Jaime einen Wir-Sprechen-Uns-Später-Blick, den er endlich mal nicht ignorierte, sondern mit einem knappen Nicken bedachte. Wenigstens etwas.

Jaime

Die Tür schlug hinter meiner Schwester zu, als sie den Raum verließ. Ich hatte einfach nicht mit ihr reden wollen. Ich fühlte mich bereits wie ein völliger Trottel, weil ich Harry einfach so entscheidende Informationen über mich gegeben hatte und zudem noch bei Umbrigde nachsitzen musste. Außerdem beschlich mich das schlechte Gefühl, dass diese etwas mit Harrys Wunde auf der Hand zutun hatte. Gleichzeitig fühlte ich mich schuldig, weil ich meine Schwester einfach so abgewimmelt hatte ... dabei wollte sie doch nur das Beste für mich ... Ich schloss für einen Moment lang die Augen.
Allana hatte schon genug eigene Probleme und dann war da noch das Treffen mit Draco ... Ich wollte ihr jetzt einfach nicht die Laune verderben.
Wahrscheinlich hatte ich das ohnehin schon.
Seufzend streckte ich den Rücken durch und bewegte den Kopf hin und her. Dabei begegnete ich Harrys stechenden Blick.
,,Was?", fauchte ich genervt.
Harry zuckte nur die Schultern. ,,Nichts. Ich bin nur ... gespannt, wie das Nachsitzen heute verlaufen wird."
Oh, Harry, da bist du garantiert nicht der einzige.

Der Abend kam schneller als geplant. Es war beinahe so, als würden die Stunden förmlich an mir vorbeifliegen.
Madame Pomfrey hatte inzwischen Harrys Beule geheilt und meinen Kiefer mit einem lauten Knacken eingerenkt, wobei ich mich zusammenreißen musste, um nicht laut aufzuschreien. Aber diese Genugtuung wollte ich Harry keinesfalls geben.
,,Komm jetzt", meinte Harry plötzlich. Ich sah betont langsam von meinem Buch auf. ,,Wie bitte?"
Der Gryffindor rollte die Augen. ,,Du weißt genau, was ich meine, Gaunt. Wir müssen jetzt zu Umbrigde."
Ein kleiner Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich musste jetzt höllisch aufpassen. Nichts sagen. Vor allen Dingen nicht lügen, das witterte sie offenbar wie ein Bluthund. Einfach Reue zeigen und immer nicken, wenn sie etwas sagt.
Ich klappte das Buch zu. ,,Ich fühle mich geehrt, mit einer so berühmten Persönlichkeit wie dir durch das Schloss zu wandern. Krieg ich ein Autogramm?"
,,Halt's Maul", meinte Harry nur als Antwort.
Den gesamten Weg über sprachen wir kein Wort miteinander. Zwischen uns herrschte eisiges Schweigen. Dabei hätte ich mir fast, nur fast gewünscht, dass Harry etwas sagte. Ich konnte eine kleine Ablenkung jetzt gut gebrauchen.
,,Also ... deine Eltern sind nicht tot?", fragte Harry mich plötzlich. Dabei grinste er leicht.
Meine Laune verfinsterte sich sofort und ich warf Harry einen tödlichen Blick zu.
Nicht antworten, nicht antworten! ,,Halt's Maul."
Harrys Grinsen vertiefte sich.

Endlich erreichtten wir Umbrigdes Büro und ich klopfte einmal.
,,Kommen Sie herein", hörte ich Umbrigde von drinnen sagen und die Tür schwang auf.
Im Inneren war alles rosa und pink. Beinahe dachte ich, in einem dieser Märchenschlösser gelandet zu sein, mit denen kleine Mädchen ständig spielten.
In altmodischen Bilderrahmen maunzten flauschige Katzen und auf dem Tisch waren rosafarbene Spitzendeckchen ausgebreitet.
Umbrigde saß auf einem kleinen Stuhl am Tisch und rührte Zucker in eine Teetasse. Auf dem Tisch selbst lagen zwei identische Federn, sowie Pergament.  Umbrigde gegenüber standen zwei weitere Stühle. ,,Setzen Sie sich."
Wir setzten uns. Sie schenkte mir ein Krokodilslächeln. ,,Willkommen, Mister Gaunt. Sie sind nun leider noch nicht mit dem Prozedere vertraut, habe ich Recht? Mister Potter, erklären Sie doch bitte ihren Freund, was Sie tun sollen."
Harry sah mich ausdruckslos an. ,,Wir müssen Sätze mit unseren eigenen Blut schreiben."
Ich starrte erst ihn und dann Umbrigde an. ,,Verzeihung?"
Umbrigde lachte mädchenhaft und tippte mir auf die Hand. ,,Die Botschaft soll sich schließlich einprägen."
Als wäre das eine Entschuldigung für diese Folter. Ich ballte die Hand zur Faust. Mein Mund öffnete sich. Ich war so kurz davor etwas zu sagen. Sie zu beleidigen, einen sarkastischen Kommentar abzugeben, ganz gleich. Aber das durfte ich nicht. Ich hob scheinbar gelassen die Feder auf und drehte sie in der Hand. ,,Natürlich. Was soll ich schreiben?"
Harry warf mir einen ungläubigen Blick zu.
Umbrigde lächelte nur noch breiter. ,,Da Sie sich des gleichen kleinen Vergehen wie Mister Potter hier schuldig gemacht haben, schlage ich vor, Sie schreiben auch den gleichen Satz. Ich soll keine Lügen erzählen."
Ich setzte die Feder auf dem Pergament ab. Dann schreib ich. Ich soll keine Lügen erzählen. Meine Haut brannte schmerzhaft und ein kleines Blutrinnsal tröpfelte auf den Tisch.
Ich soll keine Lügen erzählen.
Ich soll keine Lügen erzählen.
Ich soll keine Lügen erzählen.
Ich. Soll. Keine. Lügen. Erzählen.

Seine Erben (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt