Wut, Schmerz und Trauer

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Jaime

Ich torkelte wie ein Betrunkener durch die Flure. Alle paar Meter musste ich mich an der Wand abstützen, da mein Kopf schmerzhaft pochte und meine Augen vor Tränen brannten. Auf zittrigen Beinen tastete ich mich weiter vor und spürte, dass mich erneuter Schwindel ergriff. Ich lehnte mich ermattet gegen eine der Säulen und holte tief Luft. Zum Gemeintschaftsraum der Gryffindors war es nicht mehr weit, nur noch um diese Ecke ...
Bei dem Portrait der Fetten Dame kam ich schwer atmend zum Stehen. Diese beobachtete mich aus geweiteten Augen, ihr Näschen war gerümpft und ihr Blick wanderte über mich. Ich musste furchtbar aussehen. Meine Kleidung war vollkommen verdreckt und meine Augen waren rot und geschwollen. Die Haare standen mir unordentlich vom Kopf ab, mein Gesicht war kränklich und fahl.
,,Hör zu", krächzte ich. ,,Ich muss jetzt zu Allana. Sirius Black ist gestorben und sie ist jetzt gan- ganz allein und ich ... ich brauche sie-"
Das Porträt schwang auf und gab den Blick auf den Gemeinschaftsraum frei. ,,Wa- was?", stotterte ich und starrte die Fette Dame an. Warum hatte sie mich eingelassen?!
Zu meiner Überraschung konnte ich auch in ihren Augen Tränen entdecken. ,,Das- Das Passwort lautet Sirius Black." Sie schniefte einmal unüberhörbar. ,,Er war ja so ein lieber Junge, immer für einen kleinen Spaß zu haben, immer-" Sie unterbrach sich und seufzte einmal. Dann tupfte sie sich mit einem übergroßen Taschentuch die Augen. Anschließend putzte sie sich geräuschvoll die Nase. ,,Das Mädchen ist in ihrem Schlafsaal ... hat wirklich eine sehr große Ähnlichkeit mit Selena ... es tut mir ja so leid für sie ..."
Ich stammelte ein mechanisches ,,Dankeschön", bevor ich auch schon die Stufen zum Turm hochstolperte. Oben angekommen überlegte ich kurz, ob ich klopfen sollte, schließlich besaß meine Schwester kein Einzelzimmer. Aber ich vermutete, dass alle ihre Zimmergenossinen bei diesem sonnigen Wetter draußen auf den Ländereien waren.
Ich öffnete leise mit zittrigen Händen die schwere Tür einen Spalt breit und blickte hinein. Die roten Vorhänge waren teilweise zugezogen, was den Raum in dämmriges, schummeriges Licht hüllte.
Ich kämpfte mich näher zu dem einzigem Bett, was nicht leer war; Allana lag zusammengerollt auf der unordentlichen Bettdecke, das Gesicht in den Armen verborgen. Ihr schmaler Körper bebte, als sie einmal leise schluchzte. Es zerriss mich innerlich sie so leidend zu sehen. Und das alles nur wegen Voldemort ...
,,Hey, Al, ich bin's", meinte ich so sanft wie möglich. Meine Stimme war nur ein Krächzen.
Dann trat ich näher und legte mich mit etwas Abstand neben ihr mit angewinkelten Beinen ins Bett.
Zuerst verharrte Allana, dann rückte sie etwas näher zu mir, bis sich unsere Knie berührten.
Erst jetzt nahm sie zögerlich und unendlich langsam den Arm von dem Gesicht und drehte den Kopf leicht zu mir.
Ihr Anblick versetzte mir einen schmerzhaften Stich in der Brust. Er war wie ein Spiegel meiner Selbst: Ihr Gesicht war fahl und ihre Augen verweint. Auch ihre Haare waren unordentlich und teilweise feucht von Tränen, sodass sie ihr im Gesicht klebten.
,,Du siehst schrecklich aus", murmelte ich und strich ihr eine Strähne hinter das Ohr.
,,Du auch", flüsterte sie mit heiserer Stimme zurück und fuhr mir kurz durch die unordentliche Frisur. Ich zwang mich zu einem Lächeln.
Dann schwiegen wir beide. Ich schloss erschöpft die Augen und atmete tief ein und aus. Allana schniefte hin und wieder. ,,Glaubst- glaubst du, er wird uns alle nehmen, die uns etwas be- bedeuten?", fragte sie nach einigen Sekunden mit bebender Stimme.
,,Ich- Ich weiß es nicht." In meinem Kopf flogen die Gesichter von Draco und Hermine, sowie von Luna, Nott, Blaise, seltsamerweise auch von Harry und Neville vobei. Sie waren vielleicht nicht direkt meine Freunde, aber unter anderen Umständen ... Ich sorgte mich in gewisser Weise trotzdem um jeden von ihnen.
Würden sie alle das gleiche Schicksal erleiden wie Cedric und Sirius?
Ich schluckte mühsam und rieb mir über die brennenden Augen. ,,I- Ich weiß es wirklich nicht." Ich biss mir kräftig auf die Lippe und Blut quoll hervor. Der metallene Geschmack ließ mich würgen, lenkte mich aber einen Moment von meinem Schmerz ab. Trotzdem spürte ich erneut Tränen in meinen Augen aufsteigen. ,,Ich- ich sollte- ich sollte wieder gehen", murmelte ich hohl. Ich wollte nicht vor Allana weinen.
Meine Schwester blickte starr an die Decke. Eine einzelne Träne lief ihre Wange hinunter. ,,Ich- ich kann ... ich kann es nicht zeigen, weißt du? Diese Trauer, d- diesen Schmerz, diese Wut. E- es ist wie ein Gefängnis." Sie schluckte einmal heftig und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie öffnete den Mund, als suche sie nach Worten. ,,Ich habe jeden meiner F- Freunde angelogen, häufiger als- als ich zählen kann." Und dann sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. ,,Ich verstecke mich vor ihnen, nicht einmal- nicht einmal Draco kann ich die Wahrheit sagen. Nur dir." Sie schluckte einmal. ,,Ich bin ei- einfach nicht mehr ich selbst." Sie drehte den Kopf in meine Richtung. ,,Verstehst du?"
Ich nickte. Das tat ich.
Ich durfte nicht öffentlich um Sirius trauern, da sonst auch Allanas Identität offengelegt sein würde. Ich musste mich so verhalten, als wäre ich nach Sirius' Tod nicht ein bisschen mehr zerrissen. Ich durfte den Schmerz, die Qual, die ich verspürte nicht ausleben, meiner Wut und meinem Hass nicht freien Lauf lassen. Ich durfte nicht zeigen, wie ich mich fühlte, musste immer und überall diese kühle, manipulative Maske aufsetzen. Meine Emotionen waren in mir gefangen, egal ob Trauer oder Schmerz oder Wut oder Freude. Ich musste sie verbergen, tief in mir, vor alles und jedem. Und Jederzeit. Niemand durfte davon wissen.
Niemand außer Allana.
Denn Allana erging es genauso.
Sie war die einzige Person, die immer zu mir halten würde, der ich alles anvertrauen konnte, die einen Blick hinter diese Maske erhaschen konnte. Sie war die Einzige, die mein Schicksal teilte und somit die Einzige, die mich verstehen konnte. So wie auch andersherum.
Als ich zu dieser Erkenntnis gelangte, fing ich tatsächlich an zu weinen.
Bei Allana konnte ich dies tun, wenn ich es sonst nirgendwo tun konnte. Das ließ mich gleichzeitig einsam und ... das Gegenteil davon fühlen.

Irgendwann schloss Allana die Augen. Ihr Mund war leicht geöffnet und ihr Arm hing schlaff aus dem Bett. Sie schlief jedoch nicht, das wusste ich.
Ich stand auf und zückte meinen Zauberstab, welchen ich auf einen der Vorhänge richtete.
Schmerz. Wut. Trauer. Ich durfte meinen Emotionen freien Lauf lassen, ich wollte es, ich musste es.
Ich schwang den Zauberstab wie ein Messer und der Vorhang wurde der Länge nach aufgeschlitzt. Ein weiterer Schlenker und die Kommode zersplitterte in unzählige Einzelteile. Dann eines der Betten. Und ein weiterer Vorhang. Der Teppich. Kommode. Schrank. Truhe. Bett.
Eine gefühlte Ewigkeit später ließ ich mich erneut ins Bett neben Allana fallen und wischte mir die letzten Tränenspuren von den Wangen. Sie öffnete leicht die Augen. ,,Geht es dir jetzt besser?"
Ich blickte mich in dem demolierten Raum um. ,,Ja", antwortete ich leise.
Ich war nur noch müde. Müde und erschöpft. Ausgelaugt. Der Schmerz war immer noch da, aber jetzt wo ich ihn frei gelassen hatte, fühlte ich mich zum ersten Mal erleichtert.
Ich legte meinen Kopf an Allanas Schulter und schlief innerhalb von Minuten ein.

Allana

Ich spürte Jaimes leise Atemzüge an meinem Ohr. Endlich schlief er.
Ich konnte nur ahnen, was gerade in seinem Kopf vorging. Nein. Tatsächlich wusste ich genau, was ihn verfolgte.
Sirius war tot. Wie viele würden noch sterben? Unser Onkel ... Meine Unterlippe zitterte, als ich an Sirius dachte. Zwei Jahre. Nur zwei Jahre war er bei uns gewesen, bevor er uns entrissen wurde. Wir hatten ihn kaum gekannt. Wie gern ich mir vorgestellt hatte, dass Jaime und ich bei irgendwann bei unseren Onkel leben konnten, ohne Geheimnisse ohne weitere Lügen. Aber auch diese Möglichkeit war uns genommen worden.
Ich spürte, wie sich Tränen ihren Weg über meine Wangen bahnten und wischte sie vorsichtig mit meiner freien Hand weg. Ich wollte Jaime nicht aufwecken.
Wir beide hatten unterschiedliche Methoden mit unserem Schmerz umzugehen. Er nutzte seine Magie. Ich nutzte meine Gedanken. Ich erinnerte mich an die Todesser, wie sie geschrien hatten, als ich all meinen Schmerz, meine Trauer, meine Wut in ihren Geist freigelassen hatte. Zurück war nur dumpfe Resignation, Mutlosigkeit und Taubheit geblieben, der Schmerz war nach und nach Erschöpfung gewichen. Und der quälenden Frage, ob sich das Erlebte wiederholen würde. Wer würde noch sterben? Wie viele weitere?
Ich seufzte leise und blickte zu meinem schlafenden Bruder. Wie jung und verletzlich er gerade aussah. So hatte ich ihn schon lange nicht mehr gesehen.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf das Gefühl, dass ich nicht allein war. Wir würden die Zukunft gemeinsam durchstehen. Wir mussten.

Letztendlich hatten wir nur uns beide.

Es fällt mir echt nicht leicht, solche Kapitel zu schreiben. Ich kann einfach von meinen Erfahrungen her nicht nachvollziehen, was die beiden gerade durchmachen (ich hoffe, ich muss es auch nie), aber ich gebe mein Bestes.

Seine Erben (2)Where stories live. Discover now