Entführung

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Allana

Ich umarmte meinen Bruder ein letztes Mal. Hier würden sich unsere Wege trennen. Ich würde mit dem Schnellzug zu dem Anwesen der Diggorys reisen und Jaime würde mit der Stadtbahn in den kleinen Stadtteil Chiswick fahren.
,,Meine Adresse hast du?", vergewisserte er sich ein weiteres Mal. ,,Wenn du dich nicht wohl fühlst, kommst du einfach zu mir und schläfst auf dem Sofa. Wenn ich bis dahin eins habe." Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. ,,Ich habe ehrlich gesagt bis jetzt nur ein Bett, einen Tisch und einen Herd in der Wohnung, den Rest muss ich mir noch beschaffen."
Meine Lippen hoben sich. ,,Ich werde dich nur allzu gern aus dem Bett schmeißen."
Seine Antwort war ein Glucksen und er fuhr sich mit den Fingern durch das immer länger werdende dunkle Haar. Dann wurde seine Miene schlagartig ernst. ,,Versprich mir, dass du auf dich aufpasst, ja?", meinte er leise und seine sturmgrauen Augen blickten plötzlich sorgenvoll in meine.
,,Du auch", antwortete ich flüsternd in der gleichen Lautstärke. Er umarmte mich erneut und ich wusste, dass er die Augen dabei geschlossen hatte.
,,Bis bald", meinte er dann nach einigen Sekunden und löste sich von mir.
Hinter mir vernahm ich ein quietschendes Geräusch, als mein Zug auf den Gleisen zum Stehen kam.
,,Ich muss los, sonst verpasse ich noch den Zug", meinte ich schweren Herzens und schob dann meinen Koffer zu den mittlerweile geöffneten Türen. Ich winkte meinem Bruder ein letztes Mal zu, bevor sich die Schiebetüren langsam schlossen. Er hob die Hand zum Abschied.
Der Zug fuhr los und Jaimes schlanke Gestalt wurde kleiner und kleiner, bis der Zug nach einigen Sekunden an Geschwindigkeit gewann und ratternd den Bahnhof King's Cross verließ.
Nach Hause.

Im Zug fiel ich nicht weiter auf, was wohl daran lag, dass ich mir bereits im Hogwartsexpress Muggelkamotten anzezogen hatte. Nun trug ich also eine helle Jeans und eine weiße Bluse anstatt der üblichen Schuluniform.
Ich versuchte mich auf die vorbeiziehende Landschaft zu konzentrieren, auf die Felder, die vereinzelten Bäume ... aber meine Gedanken schweiften immer wieder zurück zu meinen Zieheltern.
Ich hatte sie einfach so allein gelassen. Als Cedric gestorben war, hatte ich sie weder besucht, noch mit ihnen geschrieben oder ihnen eine kurze Nachricht ausgerichtet. Ich war einfach verschwunden und hatte sie im Stich gelassen.
Wie mochte unser Wiedersehen aussehen? Würden sie in Tränen ausbrechen? Würden sie Verständnis für mein Handeln zeigen? Würden sie mich scheinbar liebevoll umarmen, aber ihre Augen vorwurfsvoll blitzen? Du hast uns im Stich gelassen, als wir dich brauchten.
Das würde zwischen uns stehen. Ich war weggelaufen, hatte mich bei meinem Bruder versteckt, hatte jeden Gedanken an meine Zieheltern, jeden Gedanken an Cedric verdrängt. Ich war nicht bei ihnen, war nicht für sie da gewesen, sondern war geflohen wie ein Feigling.
Ich biss mir auf die Lippe und schloss kurz die Augen.
Ich hatte diese Begegnung so lange wie möglich hinausgezögert und mit jeder verstrichenen Sekunde war das Gefühl der Schuld in mir größer geworden. Ich war weggerannt. Immer weiter, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wen ich verletzen konnte. Und ich wusste, ich hatte meine Zieheltern verletzt. Ich hatte ihnen den Rücken gekehrt. Als hätten sie nicht nur ein, sondern beide ihrer Kinder an Voldemort verloren. Und ein kleiner Teil von mir gab ihnen dabei Recht.

Ich schien eingeschlafen zu sein, schreckte jedoch hoch, als der Zug knatternd zum Stillstand kam. Eine Lautsprecheransage ertönte und ich rappelte mich müde auf. Hier musste ich raus.
Mein Herz begann schneller zu schlagen, als ich den kleinen, vertrauten Bahnhof durch die Fensterscheiben erblickte. Er schien kleiner geworden zu sein. Aber auch voller und dreckiger. Als Kind war es mir vermutlich nie aufgefallen.
Seufzend hiefte ich meinen Koffer aus der Gepäckablage und stieg aus dem Zug.
Menschen eilten geschäftig an mir vorbei, sprachen in Telefone, rempelten mich an. Es war so fremd hier. So viele Jahre waren inzwischen vergangen, so viel war passiert, so viel hatte ich erlebt ...
Ich schüttelte den Kopf und umfasste denn Griff meines Koffers. Es brachte nichts, jetzt über all dies nachzudenken. Zeiten ändern sich, genauso wie wir auch.

Seine Erben (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt