Der Artikel

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Jaime

Heute: Exklusives Interview mit Harry Potter - die ganze Wahrheit.
Meine Gesichtsmuskeln verkrampften sich bei der Überschrift im Klitterer und ich war kurz davor die Zeitung zusammenzuknüllen und in den nächsten Kamin zu werfen. Aber diese Genugtuung würde ich Harry Potter keinesfalls gönnen. Ich schloss für einen Moment lang die Augen und lockerte meine Finger ein wenig. Meine Knöchel traten bereits weiß hervor. Ich las weiter
Die Nacht, in der ich ihn zurückkommen sah.
Die ersten Abschnitte überflog ich nur. Ich wollte nicht noch einmal den Mord an Cedric durchleben. Außerdem war das einzig Wichtige das Ritual und Harrys Eindrücke danach.
Während des Lesens bemühte ich mich meinen Gesichtsausdruck so neutral wie möglich zu halten, vielleicht sogar belustigt zu grinsen - schließlich war ich nur ein hochmütiger Slytherin, der Potter für einen übergeschnappten Irren hielt und den Artikel eher als Belustigung und nicht als Bedrohung ansah.
Neben mir stieß Draco plötzlich einen kleinen Fluch aus. Auch er hielt eine Ausgabe des Klitterers in der Hand. Seine Miene war jedoch kein bisschen amüsiert, sondern vielmehr verärgert.
,,Was ist denn?", fragte ich ihn.
,,Potter stellt meinen Vater hier als Todesser dar", antwortete er durch zusammengebissene Zähne und deutete auf einen Absatz am Ende des Artikels, den ich noch nicht gelesen hatte.
,,Damit hat er doch nicht einmal unrecht, oder?", vermutete ich bedächtig. Ich war zu diesem Zeitpunkt vermutlich bereits durch den Portschlüssel in den Verbotenen Wald gebracht worden, denn ich hatte keine Erinnerung an Dracos Vater, geschweige denn an andere Todesser.
Draco lächelte bösartig. ,,Natürlich. Aber darum geht es hier nicht. Er zieht den Namen Malfoy in den Dreck." Er drehte sich zu Harry um, der zwischen Hermine und Ron am Gryffindortisch saß. ,,Du bist tot, Potter!"
Ich hatte nun endlich die entscheidenden Stellen ausfindig gemacht.
...Voldemort brauchte das Blut eines Feindes für das Ritual und so ritzte Wurmschwanz meinen Arm an und ließ etwas Blut in den Kessel träufeln. Danach zog er eine Phiole aus seiner Tasche. ,,Blut des Sohnes", sagte er und schüttete die rote Flüssigkeit in den Kessel.
Daraufhin explodierte der Kessel und Voldemort erstieg daraus.
In diesem Moment hatte ich endlich die grauenvolle Wahrheit erfahren. Oh, wie naiv ich doch zuvor gewesen war. Als wäre es nicht Beweis genug gewesen, dass unsere Mutter von unserem Vater gefoltert worden war. Dass Dumbledore mir nicht traute. Dass Hagrid mich beinahe angegriffen hatte, als er mich erkannt hatte. Die Beweise waren da gewesen und ich hatte sie ignoriert.
Ich merkte, dass ich glasig ins Leere starrte und wandte meinen Blick wieder hastig auf die bedruckte Seite.
Hier wurde nun detailliert Voldemorts Aussehen beschrieben. Bei jedem Wort blitzten Erinnerungsbruchstücke vor meinem inneren Auge auf. Die viel zu dünnen, spinnenartigen Glieder ... wie er mit seinen langen Fingern meinen Zauberstab gehalten hatte ... mein Herz hatte so schnell geschlagen ... sein grauer, lippenloser Mund ... wie er die Wahrheit über meine Herkunft voll grausamer Genugtuung geflüstert hatte ... dieser Abscheu, diese Todesangst, die ich verspürt hatte ...
Mein Mund war nun ganz trocken. Hastig nahm ich mir einen der gefüllten Gläser vom Tisch und führte es an meine Lippen. Dabei zitterten meine Finger so stark, dass etwas von der Flüssigkeit auf den Tisch schwappte. Ich unterdrückte eim Fluchen. Dann las ich weiter.
Voldemort folterte Pettigrew mit dem Cruciatus-Fluch und seine Schreie hallten über das Gelände. Er stieg über ihn hinweg und ging zu einem anderen Grabstein, der aus meinem Blickwinkel nur schwer auszumachen war. Er sprach einen Zauber, woraufhin ein offenbar vorher angewendeter Unsichtbarkeits-Zauber aufgelöst wurde. Auch an diesem Grabstein war jemand gefesselt. Es war vermutlich der besagte "Sohn".
Dieses totenkopfbleiche Gesicht nur Zentimeter entfernt von mir ... das Entsetzen ... die Panik ... die dumpfe, stumpfe Resignation ... ohne jegliche Hoffnung ...
Voldemort schien leise mit ihm zu sprechen. Das Gesicht des "Sohnes" war im Dunkeln verborgen. Voldemort schien seine Identität nicht zeigen zu wollen, ganz anders als später bei den Todessern, deren Masken er abriss.
Dann bewegte er ein weiteres Mal seinen Zauberstab, woraufhin sich die Fesseln der Gestalt lösten.
Voldemort sprach einen Zauber und ein Teil des Grabsteins mit den Lettern Tom Riddle bröckelte ab. Diesen verwandelte er in einen Portschlüssel. Anschließend gab er dem "Sohn" einen Zauberstab. Dieser berührte den Grabstein mit der Hand und verschwand.
Ich legte die Zeitung beinahe nachdenklich beiseite. Meine Finger zitterten noch immer leicht, aber ich musste jetzt einen klaren Kopf behalten!
In dem Artikel stand nichts geschrieben, von dem ich nicht bereits geahnt hatte, dass Harry es wusste. Nichts über mein genaueres Aussehen. Nichts über meine Identität. Allerdings wusste jetzt nahezu jeder über den Sohn Bescheid, ganz gleich ob Schüler, Lehrer, Ministeriumsangestellter, Quidditch-Spieler oder Ladenbesitzer in der Winkelgasse.
Es würde Vermutungen geben, Verdächtigungen, Anschuldigungen und zwar nicht nur hier in Hogwarts.
Tatsächlich konnte dieser Sohn jeder sein. Alt, jung, groß, klein ... Harrys Statement war hier recht vage, sogar so vage, dass praktisch jeder Mann oder Junge besagter Sohn sein konnte.
Das war gut für mich, denn die Suche würde sich durch ganz Großbritannien erstrecken. Bestimmt gab es Menschen, die geeignetere Verdächtige waren als ich.
Was ich aber als nachteilig empfand, war der Umstand, dass dieses Wissen um den Sohn nun überhaupt an sie Öffentlichkeit gelangt war. Tausende Zauberer hatten nun Kenntnisse über das Ritual. Wie viele Leute hatten Freunde oder Familie verloren und würden nicht zögern besagten Sohn unter allen Umständen zu finden? Dafür musste ich erst wissen, wie viele Personen Harrys Aussage Glauben schenkten oder wer ihn noch immer für einen verrückten Jungen hielt.
Ich sah mich um. Einige blickten stirnrunzelnd auf den Artikel, andere warfen die Zeitung lachend weg, während wieder andere aufstanden und Harry öffentlich auf die Schulter klopften. Diese Personen musste ich genauer im Auge behalten. Die meisten davon waren natürlich Gryffindors.
Und welche Lehrer glaubten Harry eigentlich? Dumbledore stand bereits seit Monaten öffentlich auf Harrys Seite, Umbrigde war natürlich der entsprechende der Gegenpol. Vermutlich glaubte auch McGonagall Harry, ich hatte sie einmal im Hauptquartier des Orden des Phönix gesehen ... Bei den anderen Lehrern musste ich noch abwarten.
Fest stand jedenfalls, dass bald eine wahrhaftige Hexenjagd im Land nach dem Sohn ausbrechen würde und irgendwann würde dieser Wahn auch in Hogwarts ankommen. Bereits jetzt musterten einige Schüler den Tisch der Slytherins mit offensichtlichen Misstrauen und Argwohn.
JAIME, hallte plötzlich eine Stimme in meinem Kopf und ich spuckte vor Schreck beinahe meinen Orangensaft aus. Wir müssen reden. Ich hielt mir die Hand an die Schläfe. Was zum ...?
Ich sah zum Tisch der Gryffindors. Allana saß mit starr da und blickte mich an ohne zu blinzeln. Sie hatte doch nicht etwa ...?
Doch. Offenbar hatte sie tatsächlich gedanklich Kontakt zu mir aufgenommen! Zuvor hatte dies nur durch Berührungen funktioniert und es waren mehrheitlich kurze Sinneseindrücke und Emotionen gewesen. Keine vollständige Botschaft.
Ich seufzte und deutete kurz auf den Flur. Allana nickte leicht. Dann stand sie auf und ging in die entsprechende Richtung. Ich folgte ihr in einigen Metern Abstand.
Draußen angekommen zog sie mich hastig hinter eine Säule.
,,Uff", schnaubte ich, als ich mit dem Körper gegen den kalten Stein knallte. ,,Wie hast du das mit der Telepathie angestellt?!"
Allana rollte die Augen. ,,Ich denke, wir haben gerade wichtigere Probleme."
,,Wenn du den Artikel meinst ... Niemand wird ihn mit mir in Verbindung bringen. Es gibt bestimmt dutzende Leute, die besser infrage kommen als ich!"
,,Also hast du den Artikel gelesen?"
,,Ob ich ...? Ja, natürlich hab ich den Artikel gelesen! Oder zumindest den wichtigen Teil. Ich muss doch wissen, was Potter über mich weiß! Aber er hat nicht genug Informationen, die Suche wird sich über das gesamte Land erstrecken und bestimmt wird niemand an Hogwarts denken und-"
,,Der Thron", unterbrach Allana mich nur. ,,Jaime, hättest du den Artikel gründlich gelesen, dann ..." Sie winkte ab. ,,Darauf will ich gar nicht hinaus." Sie holte tief Luft. ,,Er hat Dumbledores Thron beschrieben, der auf dem Friedhof stand! Harry konnte vor einem Jahr eins und eins zusammenzählen, er wusste, dass der Sohn auf Hogwarts ist, weil du mit dem Thron von Professor Dumbledore zum Friedhof gereist bist!  Der Rest des Landes wird das früher oder später ebenfalls verstehen, vielleicht haben einige dies schon! Es wird keine landesweite Suche geben, nein, sie wird sich auf Hogwarts und die Umgebung beschränken!"
Mir wurde heiß und kalt zugleich. Ich hätte wissen sollen, dass es nicht so leicht für mich sein würde. ,,Verdammt", murmelte ich tonlos und ließ mich gegen den Stein der Säule sinken.
Die Hexenjagd wird sich nicht über das Land erstrecken. Nein. Sie ist bereits auf Hogwarts angekommen.

Seine Erben (2)Where stories live. Discover now