Olivia schon halb schlafend auf meiner Schulter, öffne ich mit meiner freien Hand, die den schlappen Körper nicht fest umklammert, die Tür. Den ganzen Weg über hatte ich eine Heidenangst hinzufallen, wodurch sie sich verletzen könnte. Doch wir haben den Weg beide recht gut überstanden.
"Mom", rufe ich durchs Haus, höre aber schon, wie die Frau fröhlich aus der Küche, ihre Schürze um die Hüften gebunden, zu mir in den Flur gelaufen kommt. "Wir haben besuch."
Mit einem 'O' auf den Lippen mustert sie das Mädchen auf meiner Schulter, das ich nun absetze und beim Schuhe ausziehen helfe, wobei die Frau sie grübelnd ansieht. Meine Mutter denkt bestimmt schon drüber nach, wie lange Olivia bleibt, wo sie schlafen kann, ob sie mehr kochen muss und, und, und.
Müde, mit einem total verschlafenen Blick reibt sich der kleine Mensch neben mir die Augen, gähnt einmal laut, bevor sie sich in dem hellen Flur umsieht, dabei ängstlich an meine Beine presst, während ich versuche meine Schuhe auszuziehen.
Sie hat Angst, was ich genau sehe und mich gut an unsere erste Begegnung erinnere, wo sie sich sehr schüchtern und zurückhaltend verhielt, kaum Blickkontakt hielt. Genau so, schaut sie nun zu meiner Mom hoch, die sich mit einem freundlichen Lächeln bückt, ihre Hand ausstreckt.
"Ich bin Meredith und wer bist du?", fragt sie, mit ihrer sanften, liebevollen Stimme, bei der Olivia augenscheinlich ruhiger wird, kurz die große Hand schüttelt und leise antwortet: "Olivia."
"Sie bleibt heute Nacht", erkläre ich meiner Mutter schnell, erhalte ein 'Ah', wozu sie die Augenbrauen hochzieht. "Wieso erzähl ich dir später, Mom."
Einverstanden nickt die Frau in der grauen Leggings, zu dem sie ein langes Hemd von meinem Dad trägt, was ich noch nie zuvor an ihr gesehen habe. Manchmal zieht sie sich ein etwas älteres Shirt an und dazu eine Jogginghose, jedoch trug sie noch nie so ein Hemd von meinem Vater.
Wir werden in die Küche geführt, in der Olivia sich mit großen, müden, blauen Augen umsieht, bei dem Topf, der auf dem Herd steht, hängen bleibt, aus dem auch ein köstlicher Geruch in unsere Nasen dringt, ich nach meinem Eis, schon wieder Hunger bekomme. Und auch Olivia scheint etwas essen zu möchten, da ihr Magen einmal laut knurrt, Mom darüber ein wenig schmunzelt.
"Möchtest du mir beim Kochen helfen?", bietet sie dem kleinen Mädchen vorsichtig an, hält ihr einen Kochlöffel hin, worauf sie ein schüchternes, unsicheres Nicken erhält, ihr der Löffel abgenommen wird.
Vorsichtig hebt sie Olivia unter den Armen hoch, sagt, dass sie einmal umrühren muss, bevor wir essen können, was die Blondine dann auch mit einem Strahlen erledigt, sich über die Nudeln scheinbar freut und dann, nachdem sie wieder auf den Boden gelassen wird, zu mir auf den Stuhl klettert, auf welchem ich sie mehr an den für sie etwas zu großen Tisch ran schiebe.
Extra Teller, Tasse und Besteck bringt Mom mit, ruft dann nach meinem Vater, der paar Minuten später in der Küche steht, erstaunt das Mädchen ansieht. "Na Hallo, Besuch?", begrüßt er sie, setzt spielerisch einen erschrockenen Blick auf, der eher lustig wirkt, weshalb die Kleine belustigt kichert, dabei nickt.
"Das ist Olivia, Dad", stelle ich sie ihm vor, während er ihr seine Hand über den Tisch reicht.
"Olivia bleibt heute Nacht", fügt meine Mutter hinzu und stellt den heißen Topf auf den Tisch. "Und sie ist eine grandiose Köchen, so wie sie umgerührt hat."
Das Mädchen läuft bei diesen Worten ganz rot an, hält sich wieder schüchtern die Hände vor den Mund, nuschelt nur kurz ein 'Ja' auf die Frage meiner Mom, ob ihr das Essen auf ihrem Teller reicht.
Etwas habe ich Angst, dass sie den Teller mit einem kleinen aus dem Kindergarten verwechselt, zu viel auf ihren Teller sich füllen lassen hat, jedoch fängt sie schon hungrig an zu essen, was mich beruhigt.
Während des Abendbrots erzählt mein Vater immer etwas von seiner Arbeit, erklärt alles spielerisch und lustig, wodurch er Olivia immer wieder zum Lachen bringt, dass sie kaum mit ihren Essen vorankommt, ständig die Augen zu kleinen Schlitzen zusammenkneift, was süß aussieht und mich und meine Mutter auch zum Grinsen bringt.
Plötzlich fällt Olivia der Löffel aus der Hand, direkt auf den weißen Fliesenboden der Küche, auf den nun Soßenkleckse verteilt sind, richtig durch das rot leuchten.
Besorgt drehe ich schnell meinen Kopf zu dem Kind, das schon ganz traurig und entschuldigend guckt, die Mundwinkel hängen lässt. "Tschuldigung", murmelt sie, blickt ängstlich zu meinem Vater, als könne er gleich ausflippen, da der heilige Boden befleckt wurde.
"Ach nicht schlimm, Kleines", winkt Dad ab. "Honor hat schon viel Schlimmeres geleistet. Dagegen ist das gar nichts." Beruhigend auf das Mädchen lacht er, steht auf, um die Flecken schnell mit einem Tuch wegzuwischen, ehe er sich wieder zu uns an den Tisch setzt und weiter isst.
Dass sie sich solche Sorgen macht, weil etwas runterfällt hatte ich nicht ganz erwartet, doch wusste, dass sie sich immer Gedanken wegen Unfällen bei fremden Menschen macht.
"Am schlimmsten war in Leeds beim Umzug dein Unfall mit der Farbe", lacht Dad, beginnt die Geschichte zur erzählen, bei welcher ich im Erdboden versinken möchte, einfach in das sich öffnende schwarze Loch fallen will, das mich verschluckt.
Als wir nach Leeds umgezogen sind mussten wir auch die Wände neu streichen, wobei ich unbedingt helfen wollte. Deshalb nahm ich mir den schweren, blauen Farbeimer, welchen ich in das noch weiße Wohnzimmer trug . Bis zum Wohnzimmer bin ich gekommen, in dem der ganze Boden zum Glück schon mit Folie bedeckt war. Doch dann bin ich über irgendwas gestolpert, worauf mir der Eimer aus der Hand fiel, aufplatzte und die blaue, kräftige Farbe an die weißen Wände spritzte, auf dem Boden wie ein Teich sich nun befand. Dad brauchte Stunden um alles sauber zu bekommen, auf der Wand, auch wenn wir es übergemalt haben, sieht man immer noch ein paar blaue Punkte und ich hab mich damals richtig geschämt, stundenlang weinend in meinem unfertigen Zimmer im Bett versteckt, neben den die Möbel noch alle in Tüten eingepackt waren und Umzugskarton standen.
"Das war eine Sauerei, das kannst du dir ja bestimmt vorstellen, Olivia", lacht er mit dem Mädchen, neben das er sich nach dem Abendbrot gesetzt hat und mit dem er sich scheinbar ziemlich gut versteht.
Beide lachen immer, kichern und erzählen sich gegenseitig Geschichten, während Mom abwäscht, ich amüsiert zuhöre, bemerke, dass die Kleine kein bisschen müde mehr zu sein scheint. Und von seiner Geschichte, wo er an der Ampel stand, hat mein Dad ihr gleich als zweites erzählt, sprach voller Stolz und Belustigung.
"Ich hab einmal aus Versehen die teure Vase meiner Mama umgekippt", teilt sie meinem Vater schüchtern, beschämt mit, worauf er nur lachen kann.
"Honor hat schon tausende zerstört, weshalb wir manchmal überlegen, gar keine mehr zu kaufen", erwidert er, wodurch sich wenigstens Olivia wohler fühlt, während ich nur total rot wegschaue, betreten zu meiner Mutter blicke, welche mir aufmunternd zuzwinkert, ehe sie aus der Küche geht, wahrscheinlich um ihre komische Kochshow im Wohnzimmer zu gucken, die immer Donnerstagabends läuft.
Mein Blick fällt zur Uhr, dann zu Olivia, die müde gähnt, weshalb ich mich dazu entscheide, sie aus dem Stuhl zu heben. "Lass uns schlafen gehen", sage ich, erhalte ein Nicken, weil sie schon längst ihren kleinen Kopf auf meine Schulter gelegt hat, nur noch ein 'Gute Nacht' für meinen Vater murmelt.
Auch im Wohnzimmer nuschelt sie nur leise die Worte an meine Mutter, die schmunzelnd erwidert: "Schlaf gut!"
Oben in meinem Zimmer, lege ich sie vorsichtig auf mein Bett, stelle den Rucksack, welchen ich unten mitgenommen habe, neben sie, aus dem ich dann ihr Schlafzeug ziehe, vorsichtig das blaue Oberteil über die dünnen Arme ziehe, welche sie schwach hochhebt.
"Keine Zähneputzen", murmelt sie abweisend, schüttelt den Kopf, wobei die blonden Haare hin und her wackeln. "Keine Zähneputzen, Honor."
"Dann musst du die morgen früh aber umso gründlicher schrubben", teile ich ihr mit, erhalte ein einverstandenes Nicken, weshalb ich seufze: "Na schön, dann schlaf. Ich bin nochmal kurz unten bei meinen Eltern."
Müde kuschelt sie sich in meine große Decke ein, zieht sie bis zu ihrem Kinn. Aus irgendeinem Grund reiche ich ihr noch ein kleines Schaf, welches unter den Kissen auf meinem Fensterbrett versteckt lag. Sie umfasst es sofort, drückt es fest an ihr Gesicht und schmatzt kurz, ehe sie auch schon ganz weggetreten zu sein scheint.
An meiner Zimmertür drücke ich den Lichtschalter, erlösche das Licht und schließe meine Tür leise hinter mir, gehe dann die Treppe wieder nach unten ins Wohnzimmer, setze mich zu meinen Eltern auf die Couch, die mich erwartungsvoll, fragend ansehen, da es sie interessiert, wieso ein kleines Mädchen nun bei uns Zuhause schläft.
"Ihre Mutter muss arbeiten und besitzt keinen Babysitter", antworte ich auf den abwartenden Blick meiner Mutter, um deren Schulter ein Arm meines Vaters liegt. "Und da hat sie mich gefragt, ob ich auf ihre Tochter aufpassen könnte."
Dass sie sich nicht mal um einen Babysitter kümmert, Harry gefragt hat und diese Vorfälle, dass sie ihre Tochter jemand anderem übergibt, ständig geschehen verschweige ich einfach, muss es sowieso nicht jedem erzählen, da ich einfach hoffe, dass es bis Samstag nach der Aufführung eine Lösung geben wird.
"Und der Vater?", erkundigt sich mein Dad vorsichtig. "Was ist mit dem?"
"Der kümmert sich nicht, wohnt nicht mal mehr in Corby, glaube ich", entgegne ich, fühle das Mitleid in mir, sehe die traurigen, mitleidigen Blicke auf den Gesichtern meiner Eltern.
"Oh, ich mag sie", sagt er. "Sie ist nett und lustig. Außerdem erinnert sie mich an dich, mit vier Jahren."
"Sie ist drei, Dad", lache ich. "Ja, ich weiß, nur Vierjährige, aber Grandpa hat eine Ausnahme gemacht."
Dafür bin ich meinen Großvater so dankbar, weil ich keine Ahnung habe, wo das kleine Mädchen, welches oben friedlich in meinem Bett schläft, sonst sein würde. Wo wäre sie den gesamten Tag überhaupt, wenn ihre Mutter ständig arbeiten muss? Mit bei ihr in der Bar?
Ich weiß es nicht, möchte aber gar nicht weiter drüber nachdenken!
"Naja, ich geh jetzt auch schlafen", teile ich beiden mit, drücke kurz einen Kuss auf die Wange meiner Mom, die übe meinen Handrücken mit ihrem Daumen streicht. "Morgen Generalprobe und ich hab solch eine Angst."
"Du schaffst das schon", ruft Dad, als ich durch die Tür gehe, schon an der Treppe bin. "Wir sind stolz auf dich, egal wie es verläuft."
Lachend gehe ich die Treppe hoch, lasse die knarrende Stufe aus, bis ich oben ankomme und in mein dunkles Zimmer gehe, wo Olivia friedlich in meinem Bett schläft.
Leise versuche ich mir mein Schlafzeug anzuziehen, meinen Zopf zu öffnen und den Vorhang meines Fenster zuzuziehen, da durch diesen das grelle Mondlicht, direkt auf mein Bett, scheint, was mich stört. Dann hebe ich die Decke hoch, lege mich achtsam zu Olivia ins Bett, die sich mit einem Mal an meine Brust kuschelt, einen Arm um meinen schlingt, wodurch ich die Luft anhalte.
Damit habe ich nicht gerechnet, streiche aber nach einer Weile zärtlich über den kleinen Kopf, denke über alles nach.
Wieso wollte Harry plötzlich helfen, als er hörte, dass ich Olivia mit zu mir nehme?
Wahrscheinlich will er mich wirklich nur vollkommen fertig machen, in dem er mich immer geärgert hätte, Fragen gestellt, wie 'Ob ich wirklich dachte, dass er mich lieben könnte?', oder 'Dass ich wirklich so dumm sein konnte?'.
Er kann nichts Gutes geplant haben!
Und Olivias Mutter muss wirklich bis Samstag mir eine Lösung nennen können, weil ich sonst wirklich mit meinem Grandpa rede und nicht weiß, was danach geschehen wird. Aber es wird besser für das kleine Mädchen sein.
Ich hoffe einfach, dass die Frau diese Drohung jetzt ernst nimmt, sich wirklich irgendwo meldet und Hilfe sucht.
Gott und morgen noch die Probe, vor der ich alleine beim Gedanken zittere.
So viel kann schief laufen, so viele Menschen können enttäuscht werden und vor allem mein Grandpa, der mir danach nie wieder etwas anvertrauen wird. Wahrscheinlich erfahren die Leute in London auch gleich noch von der versauten Aufführung, weshalb sie mich doch nicht an ihre Uni lassen, ich mir etwas anderes suchen muss.
Irgendeinen langweiligen, anstrengenden Bürojob mit Rechnen.
Bloß nicht! Es muss alles gut laufen!
Seufzend kuschele ich mich mehr in die Decke ein, denke mir, dass ich als erstes morgen munter sein muss und nicht total verschlafen, damit ich den ganzen Plan nochmal genau durchgehen kann.
Ich darf nicht versagen, wie ich es bei anderen Sachen getan habe. Anderen Dinge in meinem Leben sind falsch gelaufen, doch am Samstag muss alles perfekt sein!
*Wie findet ihr das neue Cover von justinseditor? Ich liebe es. Dankeschön nochmal*