Immer wieder laufe ich vor meinem Fenster von rechts nach links, blicke aufgeregt nach draußen, in die, von der untergehenden Sonne, rote Straße, halte Ausschau nach einem Auto, von dem ich denke, dass es Leo gehört.
Der Baum vor meinem Fenster weht sanft, gibt den kleinen Vögeln Schutz unter seinen großen Ästen und den grünen Blättern. Wie ein einzigartiges Kunstwerk ranken die Äste an dem Stamm herab, was ich für ein so schönes Kunstwerk halte.
Un außerdem habe ich es selber nie geschafft, so etwas in Kunst zu zeichnen.
Allgemein. Meine künstlerischen Fähigkeiten sind auf das Minimum beschränkt. Ich kann eine gerade Linie zeichnen, weiß wie man die Proportionen des Menschen einteilt, wie man gute Kontraste setzen kann oder die exakte Menge an Acrylfarbe und Wasser benutzt, jedoch zeichnen, ein vernünftiges Bild mit diesem Wissen zustande zu bringen, ist mir noch nie gelungen.
Meine Menschen zum Beispiel, besaßen immer einen zu kleinen Eierkopf, breite Schultern, die an einen Türrahmen erinnerten, Hände so groß wie ein Fußball, komisch angelegte Füße und Beine, die seltsam gewachsen sind.
Es entstand nie ein Mensch, sondern ein Alien.
Seufzend streiche ich mir sanft eine Strähne weg, die vor meine Augen gefallen ist, mich an der Nase kitzelt.
Irgendwie habe ich es geschafft, dass meine Haare wirklich einiger Massen ordentlich über meine Schultern fallen, oben mit einer Spange nach hinten gesteckt. Meine Augen wirken nicht müde und mir gefällt mein bequemes Kleid.
Das Kleid liegt über der Hüfte eng an meinen Körper, ehe es locker bis zu meinen Knien verläuft, während weiße Träger es halten, jedoch unter meinen Haaren nicht zu sehen sind. Darüber trage ich eine Jeansjacke, die alles etwas auffrischt. Am Anfang sah es langweilig aus, doch nun finde ich es wirklich angemessen für ein Restaurant, schick und bequem, nicht von mir abgewandt, als hätte ich es in einem Katalog gefunden.
Vor einer halben Stunde war ich duschen, habe mich mit Deo und Parfüm voll gesprüht, meine Haare gekämmt, mir sogar eine Kette mit einem Kleeblatt rausgesucht und dabei überlegt, welche Schuhe zu dem Kleid passen.
Wahrscheinlich mache ich mir viel zu viele Gedanken.
Aber ich kann nicht anders, da ich nun mal so bin.
Wann kommt Leo endlich? Wie wird es in diesem Restaurant sein? Mag ich es dort überhaupt, oder werde ich mich völlig falsch am Platz befinden? Blamiere ich mich, indem ich stolpere oder so und alle teuren Tische umreiße? Was wenn im mein Kleid nicht gefällt, er deshalb einfach den Kopf schüttelt und auf den Versen umkehrt?
Mittlerweile zeigt die kleine Uhr neben meinem Bett fünf nach sieben an, die auf meinem Handy sogar schon acht nach sieben, was mich total beunruhigt.
"Bestimmt hat er es sich anders überlegt", murmele ich traurig, als mein Handy in meiner Hand plötzlich klingelt, ich enttäuscht stöhnend abhebe, als ich Nathans Namen lese. Meine Mutter kann heute verschont bleiben.
"Hi", ertönt es laut von der anderen Seite, da Nathan scheinbar in sein Handy grölen muss. "Aufgeregt?"
"Wenn es nur Aufregung werde" jaul ich, wobei mein Blick erneut aus dem Fenster wandert.
"Naja, will jetzt nicht fies oder so klingen, aber du kennst meine Meinung."
Ich nicke, antworte ihm damit nicht mit Worten, sondern schweige für ihn quasi.
Seine Meinung kenne ich gut. Er mag Leo scheinbar nicht, obwohl er ihn nie getroffen hat, was ich unfair finde. Harry mag er, redet oft mit mir am Telefon über ihn, was mich ja nicht weiter stört, würde er jetzt nicht immer so ein großes Thema daraus machen, dass er auf Harrys Seite steht, während ich keine Unterstützung mit Leo von ihm erwarten kann.
"Was trägst du?", fragt er dann, merkt scheinbar selber, dass ich gerade wirklich nicht hören muss, wie viel besser Harry doch ist, während ich mich mit einem netten Jungen treffen möchte. "Bitte sag mir ein Kleid, in dem dein Hintern gut aussieht."
"Ähm." Musternd drehe ich mich zu dem Spiegel, der an meinem Schrank hängt, sehe mich wirklich von hinten schätzend an. Wirklich ordentlich und leicht glänzend hängen meine Haare über meine Schulter und das Kleid rutscht kein Stückchen hoch, was mich beruhigt aufseufzen lässt. "Weiß nicht", antworte ich dann, weiß es wirklich nicht.
Woher soll ich denn wissen, ob mein Po gut oder nicht gut in diesem Kleid aussieht?
Oft schaue ich ihn mir nicht an.
"Gott, du bräuchtest jetzt Ethan", meint er, wobei ich mir innerlich sein breites Grinsen vorstelle, bei dem Gedanken an seinen Freund, der nun die zweite Woche sich schon in Deutschland befindet.
Auch wenn es nur eine Stunde Zeitverschiebung gibt, hören wir nicht viel von ihm, da er abends immer sehr müde ist und am nächsten Morgen wieder früh raus muss. Nathan und ich nehmen es hin, auch wenn natürlich ich nun mehr als Ansprechpartner für meinen Freund gelte, der es bis jetzt noch nicht gewagt hat, mich um eins in der Nacht anzurufen, da er irgendwelche Probleme hat.
Aber auch um eins würde ich trotzdem für ihn ans Telefon gehen.
"Wann kommt den dein Deo?"
"Hast du ihn gerade ernsthaft Deo genannt?", pruste ich erschüttert in den Hörer, schüttele meinen Kopf. Da ich aber weiß, dass ich nur eine bestimmte Antwort, nämlich die, dass es so sein kann, von im erhalten werde, antworte ich: "Um sieben sollte er hier sein."
"Unhöflich", meint Nathan, worauf ich lachen muss.
"Du bist doch derjenige von uns, der öfters zu spät kommt und der einmal zwei Stunden zu spät zu seinem Date kam."
"Zu meiner Verteidigung, ich hatte die Uhrzeit aus den Augen verloren", verteidigt er sich selbst, zieht dabei seine Augenbrauen sicherlich zusammen, worauf sich eine Falte auf seiner Stirn bildet.
"Du wohntest quasi direkt gegenüber", entgegne ich. "Und man kommt keine zwei Stunden zu spät."
"Egal", schnaubt er dann trotzig. Er rümpft die Nase, ich weiß es ganz genau. "Dein Leo Deo kommt bestimmt gleich, als lege ich jetzt auf. Ich wünsche dir viel Spaß."
Tief hole ich Luft, stecke mein Handy in die große Jackentasche, bevor ich mit klopfenden Herz nach unten laufe, ins Wohnzimmer, wo meine Eltern sitzen, Dad Fußball schaut und Mom verträumt in ihrem Buch über eine Liebe die im botanischen Garten von Oxford entstanden ist. Blumenschnulzen nennt Dad diese Bücher immer mit einem Lächeln.
"Eins zu null für Manchester", teilt er mir mit, obwohl es mich kein bisschen interessiert.
Während ich mich neben meinen Vater setze, desinteressiert auf den Bildschirm des Fernsehers schaue, spüre ich die musternden, besorgten Blicke meiner Mutter, die mich einmal von oben bis unten ab scannen.
"Du siehst hübsch aus", kommt es dann von ihr, worauf ich rot ein 'Danke', nuschele, bevor wir alle drei erschrocken aufsehen, da es an der Tür klingelt.
"Das muss er sein", meine ich an beide, die nicken. "Ich bin um kurz vor elf wieder da, denke ich." Meine Mutter wollte mich nicht länger als elf draußen alleine lassen, weil sie sich sonst Sorgen macht und ich spät nachts durch das dunkle Haus stolpere. "Wir sehen uns." Mit diesen Worten gehe ich in den Flur, lasse meine Eltern im Wohnzimmer alleine.
Sie sollen, bitte, sitzen bleiben und mir nicht noch folgen.
Bevor ich die Tür mit einem breiten Lächeln und der vorgespielten Ruhe selbst öffne, hole ich noch einmal tief Luft, klatsche mir sanft auf die Wangen, um wach zu werden. Dann ziehe ich die Tür mit Schwung auf, entdecke Leo, wie er so reizend aussieht, vor unserer Tür steht.
"Hi", bringe ich es aufgeregt und angetan von seinem Anblick hervor.
"Hi", begrüßt er mich.
Seine Beine stecken in einer blauen Jeans und dazu trägt er ein weißes Hemd, mit einer roten Krawatte. Die braunen Haare wurden ordentlich nach hinten gekämmt. Mit dem Ledergürtel, der die Hose oben hält oder vielleicht einfach nur als Deko funktioniert, dem in die Hose gestecktem Hemd und seinen Lackschuhen sieht er aus, wie ein richtiger Buissnesman.
"Tut mir wirklich leid, dass ich so spät bin, aber Freya wollte mich nicht loslassen, als meine Eltern endlich wieder da waren", entschuldigt er sich verlegen, sieht mich an.
Die Tatsache, dass er sich um seine Schwester gekümmert hat, lindert die Sache auf den Nullpunkt. Ich finde es süß und nett, wenn er sich so sehr um sie sorgt, auf sie aufpasst und nicht geht, da sie seinen Arm festhält.
"Schon in Ordnung", meine ich sanft, winke ab, worauf er erleichtert die angehaltene Luft aus atmet, sich entspannt. "Ich finde es schön, dass du dich so sehr um deine kleine Schwester kümmerst."
"Mach ich gerne."
Kurz schweigen wir beide, sehen stumm durch die Gegend, bis er sich räuspert, meine Augen sich wieder zu ihm bewegen als er vorschlägt: "Wollen wir dann los? Ich habe nämlich noch nicht gehört, dass die so weit entfernt noch bedienen."
Ich nicke lachend einverstanden, ziehe die Tür mit einem 'Bis heute Abend' an meine Eltern zu und folge dem Jungen zu seinem Auto, das vor unserem Haus parkt.
Ein weißer Mercedes steht da, passt irgendwie nicht zu unserem Haus, was mir sofort auffällt. Der Mercedes sieht zu protzig, im Vergleich zu unserem kleinen Backsteinhaus aus.
Vorsichtig gehe ich um das Auto rum, auf die Beifahrerseite, bevor ich stoppe, da Leo ums Auto gehastet kommt, sich an mir vorbei drängelt und die Tür mit einem Klacken öffnet. "Darf ich bitten?" Wie ein Diener hält er mir seine Hand hin, die ich dankend annehme, ins Auto steige.
Ein warmer, weicher Ledersitz bietet mir herrlichen Komfort für fünfzehn minütige Fahrt, zu dem Restaurant. Die gesamte Zeit über blicke ich mich in dem Wagen um, schaue mir das teuer aussehende Armaturenbrett an.
"Gehört der Wagen dir alleine?", frage ich Leo.
"Nicht ganz", gibt er zurück, konzentriert sich weiter auf die Straße. Ihm musste ich vorher nicht sagen, dass er sich bitte anschnallen möchte. "Meine Eltern haben ihn unter ihren Namen versichern und unterschreiben lassen, jedoch fahre nur ich damit und besitze die Schlüssel."
"Also haben sie ihn dir sozusagen geschenkt?"
Er nickt.
Meine Eltern würden mir niemals einen Auto schenken. Sogar zu meinem Laptop musste ich hundert Pfund damals zu meinem vierzehnten Geburtstag selber hinzuzahlen, da es sonst viel zu teuer mit weiteren Geschenken geworden wäre.
"Wie alt bist du überhaupt?" Neugierig stelle ich ihm die Frage, füge noch schnell hinzu: "Wenn ich fragen darf."
"Du darfst", lacht er, biegt dabei um eine Kurve nach rechts. "Ich bin im April achtzehn geworden."
"Ach so."
Jetzt schweige ich, stelle ihm keine weiteren Fragen, sondern schaue aus dem Fenster, raus in die vorbeiziehenden, verschwommenen Häuser, in denen ich wenig erkenne. Mal kurz eine Gestalt, mehr jedoch nicht.
"Und wie alt bist du? Wenn ich fragen darf."
Lächelnd nenne ich ihm mein Alter, sage: "Ich bin siebzehn, aber werde bald achtzehn."
"Du wirst also dein letztes Jahr in der Schule hier in Corby absolvieren?", erkundigt er sich, mit einem Ausdruck von Freude in seinen Augen.
"Nein", gebe ich ihm ehrlich als Antwort, bin der Grund für die plötzliche Leere. "Ich habe damals die dritte Klasse übersprungen, weshalb ich meinen Abschluss schon habe."
"Dann gehst du nach der Arbeit bei deinem Großvater an die Uni. Weißt du schon welche?"
Wieder schüttele ich meinen Kopf, muss jedoch nicht antworten, da wir halten, vor uns ein hell beleuchteter Parkplatz ist. Teure Autos stehen auf dem vollen Parkplatz, vor dem Gebäude, an dem Lampen hochstrahlen, was ich irgendwie schön, doch auch Aufmerksamkeit erregend finde, was mir dann wieder nicht gefällt.
Über einer Glastür steht in schnörkeligen, großen, goldenen Buchstaben 'D'or Cuillère'.
Niemals wäre ich alleine und mal spontan zu diesem Restaurant gegangen, doch ich kannte es vorher ja nicht einmal, bis Leo mich fragte, ob ich mit ihm hier essen gehen möchte.
Wir steigen beide aus, worauf er abschließt, den schwarzen Schlüssel in seiner Hosentasche verschwinden lässt, ehe wir nebeneinanderher auf das große, weiße Haus zu gehen, bei dem er mir dann Gentleman-Like die Tür aufhält, wofür ich mich mit roten Wangen schüchtern bedanke.
Langsam schlendern wir durch den Eingangsbereich zu einer weiteren großen Eingangstür, die in eine Art Saal führt, der voller Menschen ist, die alle an einzelnen Tischen sitzen, essen oder sich unterhalten. Davor steht ein älterer Mann, mit grauen Haaren und in einem schwarzen Smoking gekleidet, der durch seine runde Brille auf eine Liste blickt, auf der wahrscheinlich die Reservierungen stehen.
Kurz im Auto meine Leo vielleicht mal kurz, dass es schwer sei einen Platz dort zu bekommen.
Etwas nervös laufe ich ihm hinterher, bis wir bei dem Mann ankommen, er sich zu mir umdreht, seine Hände locker und beruhigend auf meine Schultern legt. "Bist du bereit für ein wunderbares Essen und einen tollen Abend?"
"Ich denke schon, ja", antworte ich brüchig, unentschlossen.