Schweigend sehe ich zu Harry, schaue zu ihm und warte, dass er mir antwortet, bis er sich mit einem Mal umdreht, mir den Rücken zu kehrt und verzweifelt mit seiner Hand durch die braunen Locken fährt.
"Es war ein verdammter Fehler, dich hier her zu bringen", zischt er, bevor er mit einem Mal nach meiner Hand greift, mich grob mit sich zieht, weg von dem Grab.
Mein Handgelenk schmerzt, an dem er mich stark hinter sich her schleift, offensichtlich zurück will. Zappelnd versuche ich mich von ihm los zu reißen, zu zeigen, dass ich endlich Antworten will, weil das der Grund ist, wieso ich mit ihm mitgegangen bin.
Antworten auf all meine Fragen brauche ich endlich, da ich sonst vielleicht erneut an Harry zu Grunde gehen werde, immer wieder seine Worte in meinem Kopf höre und stundenlang über diese nachdenke.
Wegen Harry habe ich Kopfschmerzen, tausende wirre Gedanken und schlaflose Nächte.
Er zieht mich hektisch durch einen der Büsche, bei dem mir kleine Äste ins Gesicht schlagen, Tränen sich in meinen Augen bilden und ich kleine Kratzer auf meinem Gesicht spüre, die etwas brennen, als die erste Träne über die verwundete Haut läuft.
Wieso muss er so etwas tun?
Wieso muss er erst mitten in der Nacht in mein Zimmer kommen, mich dann zu etwas bringen, dass ich sonst niemals getan hätte und dann auf diesen düsteren, dunklen und unheimlichen Friedhof bringen?
Wieso tut er das, frage ich mich und denke mir dazu, dass er die Zeit von früher nicht bereut, wenn er mir weiterhin weh tun kann.
"Harry", rufe ich, damit er stehen bleibt. Doch er bleibt nicht stehen, läuft unbeirrt weiter, wobei er mich immer noch mit sich zieht. Unbeholfen stolpere ich fast immer, kann mich gerade noch so auf den Beinen halten, doch spüre den Schmerz von der schwindenden Kraft.
Es ist viel zu spät, dass der Mann mich einfach so grob durch die Nacht ziehen kann.
"Bleib stehen", flehe ich, ziehe an seiner Hand, um ihn zu stoppen, aber er bleibt nicht stehen. Weiter zieht er schmerzhaft an meinem Handgelenk, achtet nicht auf mich, als wir erneut durch ein Gebüsch laufen, bei denen Dornen an meinen Beinen stechen und die Haut aufkratzen.
Ich hätte ihm nicht in Schlafhose folgen sollen.
Ich hätte ihm allgemein nicht folgen sollen, sondern in meinem warmen Bett bleiben, anstatt jetzt hier draußen in der Kälte, einer kurzen Hose und seinem Pulli zu frieren. Einiges in meinem Leben hätte ich doch besser machen können.
"Harry, bitte bleibt stehen", rufe ich aus voller Kehle, zerre erneut vehement an seinem Arm, worauf er kurz stoppt, ich gegen seine Brust knalle, da er sich umdreht, mich abwartend ansieht. Keine Emotion kann ich erkennen, wie vor ein paar Minuten noch, als er die Gravur des Steines lass. Die pure Leere starrt zurück, was mir einen Schauer über den Rücken laufen lässt.
"Ich bring dich nach Hause", erklärt er grimmig. "Und danach lässt du mich in Ruhe, gehst mir nicht mehr auf die Nerven und wirst mir keine Fragen mehr stellen!"
Gerade will ich antworten, sagen, dass ich ihn nicht verstehe, da er wollte, dass ich mit ihm mitkomme, als er mich auch schon wieder am Handgelenk fest zieht und weitergeht.
Wir laufen erneut über Äste, bei denen ich fast stolpere, durch Büsche, bei denen Blätter und Rinde der Bäume in mein Gesicht peitschen. Der Wind weht um meine Ohren, weshalb ich mein Gesicht in dem Pullover verstecke, den Lavendelgeruch erneut rieche.
Immer weiter, gröber und schneller zieht er mich über den Friedhof, achtet scheinbar gar nicht auf mich, während wir immer weiter laufen, zurück in Richtung Ausgang.
"Wieso?", nuschele ich mehr für mich selbst, sehe aber auf den Hinterkopf des Mannes.
Es tut weh, dass er sich immer so ändert, mich so verletzt. Erst nur mit Worten und nun auch mit seinem Handeln, indem er so roh mit mir umgeht, ich ihm kaum hinter komme, immer wieder gleich fallen könnte.
Ich weiß nicht, ob der heutige Abend mehr schmerzt, als die Zeit früher, da ich wirklich irgendwo in mir gehofft habe, dass er sich geändert hat, wir uns besser verstehen könnten, aber scheinbar bin ich wirklich zu naiv und dumm, dass ich so etwas von ihm dachte, erwartet habe.
Harry scheint mit seinen Beschreibungen für mich scheinbar vollkommen Recht zu haben.
Dumm und naiv, mehr scheine ich nicht zu sein.
"Bitte bleib stehen", flehe ich schluchzend, als ich langsam das Tor in der Dunkelheit erkennen kann, Harry noch mehr an Tempo zu legt und verzweifelt sich wieder durch Haare fährt. "Harry, bitte!"
Tränen fließen öfters über meine Wangen und mein Körper möchte zittern, sich ausruhen, was ich aber verhindere, da ich weiterlaufen muss, sonst fallen würde. Meine Beine schmerzen von den Dornen, dem Laufen und der eisigen Kälte. Ich fühle mich so klein, verletzt, allein und unbedeutend.
"Es war ein verfickter Fehler", höre ich Harry murmeln, der weiter wie versessen auf das Tor zu läuft.
Mit einem Mal spüre ich einen Widerstand an meinem Bein, bleibe in einen Ast hängen, worauf ich stoppe, jedoch Harry mich weiter zieht, wodurch ich ins Schwanken gerate, kreischen auf den harten Boden falle und dort aufgelöst sitzen bleibe.
Meine Arme lege ich um meinen zitternden Körper, lasse die Tränen laufen und die Schluchzer meine Kehle hoch klettern, bis sie meinen Hals verlassen. Die schmerzenden Beine tuen weh, ebenso die Füße und mein Hintern, auf dem ich gelandet bin. An mir klebt ekliger Dreck.
Weinend schaue ich mit verschwommenem Blick auf zu Harry, der vor mir steht, in irgendeiner Art und Weise auf mich herabsieht, die schon wieder ein trauriges Gefühl zeigt. Nach einer Weile, in der ich weinend auf dem Boden sitze, auf zu ihm sehe und irgendwas von ihm erwarte, dass mich beruhigt, kniet er sich vor mir hin, greift nach meiner Hand.
"Ich bring dich nach Hause", erklärt er mir, will mir hoch helfen, worauf ich stur den Kopf schüttele.
"Nein!", motze ich, verschränke meine Arme, damit er mich nicht auf die Beine ziehen kann. "Du machst nichts", gebe ich ihm zu verstehen, füge dann hinzu: "Bis, du mir ein paar Fragen beantwortet hast, Harry!"
"Honor, nein!", kontert er sofort.
Ich bleibe weiterhin sitzen, weine und bocke ihn mit meinem wütenden Blick an.
Er hat mir so weh getan, mir bewiesen, dass ich ihm nicht vertrauen hätte dürfen, nun wahrscheinlich viel Ärger Zuhause bekommen werde, da ich dreckig bin, mitten in der Nacht mit einem Jungen aus meinem Fenster geklettert bin, dazu total aufgelöst und verheult bin. Meine Mutter wird toben, wenn sie das sieht, erfährt, dass ich einfach gegangen bin.
Vielleicht wäre es gut nach Hause zu gehen, aber ich habe Angst vor dem Ärger, den ich bekommen werde, nur weil ich so dumm war und Harry vertraut habe, dachte ich würde wirklich Antworten auf diese quälenden Fragen bekommen.
Doch ich habe mich in ihm getäuscht.
Was wenn er nur sein Plan war, dass ich ihm folge, mit ihm auf einen alten, dunklen Friedhof gehe, er das Grab des Mädchens nur ausnutzt, um mein Mitleid zu gewinnen, ehe er mich so fertig machen kann?
Er muss doch innerlich lachen, wenn er mich so verheult vor sich hat, nur weil er plötzlich seine Meinung ändert und ich dies nicht will.
Aber es ist nicht nur das. Die Art, wie er mich hinter sich herzog, mein Gelenk drückte und keine Rücksicht nahm verletze mich tief im Herzen. Wie viel Angst hatte ich seit dem ersten Tag auf der Arbeit, dass Harry mir erneut solche Schmerzen zufügen würde, bangte jeden Tag?
Ich bin aber selber schuld, wollte immer wieder Antworten bekommen, mit ihm reden, und bei ihm sein, da er mich trotzdem fasziniert, obwohl er mich jedes Mal verletzt.
Nur heute Abend, heute Nacht, jetzt, wo ich hier sitze, ist zu viel des Guten und der Anzüglichkeit.
Entweder er behandelt mich richtig, gibt mir endlich das was ich will, oder... Mir wird nichts anderes übrig bleiben, als mit meinem Großvater zu reden.
Darüber, dass ich doch nicht bei ihm arbeiten kann. Auch wenn es ihn enttäuschen wird, kann ich nicht weiter in demselben Gebäude wie der Lockenkopf arbeiten, ihn jeden Tag sehen und Kommentare ertragen. Harry verpetzen werde ich nicht, das kann ich einfach nicht. Aus Liebe zu Olivia... Nicht Harry!
"Honor, steh auf" kommt es von Harry, der nun es schafft, mich mit Leichtigkeit auf die Beine zu bekommen, jedoch meinen schlaffen Körper auch weiterhin halten muss, weil ich gar nicht daran denke, zu gehen.
"Nein, Harry", kontere ich lautstark, schlage gegen seine Brust, ehe ich mich auf meine eigenen Beine stelle, erneut auf die angespannte Brust schlage. "Entweder du gibst mir jetzt ein paar Antworten oder..."
Ich weiß nichts, womit ich ihn erpressen könnte, weshalb ich danach schweige, abwartend in die grünen Augen sehe, hinter denen er zu überlegen scheint.
Lange schweigt er, während ich dem Rauschen der Blätter im Wind lausche, meinen Blick nicht von ihm nehme und ungeduldig auf wenigstens eine Antwort warte. Weiterhin sagt er nicht, schaut mir tief in die Augen, wobei er unruhig atmet, seine Augen glasig wirken.
"Ich mache das nicht weiter mit", spreche ich dann doch noch selber. "Bitte, lass mich nicht wieder, wie vor vier Jahren, leiden. Bitte!"
"Was erwartest du von mir?", brüllt er mehr in mein Gesicht, bebt, wobei ich seine Nasenflügel flattern sehe. "Was? Dass ich denke, du könntest irgendwie was Normales mit mir haben, da wir beide vergessen, wie grauenhaft ich war?"
Er erinnert sich, ist das einzige, was in meinem Kopf erscheint.
"Wenn du das kannst, bist du echt anders, als ich dachte, Honor. Und anders als ich, da ich das nicht so einfach kann."
Mit voller Wut schlägt er plötzlich mit seiner geballten Faust gegen einen Baum, ehe Kratzer und etwas Blut an seiner Hand im Mondlicht schimmern. Mit einem Schmerz verzehrten Gesicht, sieht er mich an, scheint um etwas zu flehen, was ich nicht verstehe.
"Ich kann das ich nicht einfach so", rede ich leise, lege meine Hand auf seine Faust, die ich musternd betrachte. So schlimm sieht es nicht aus, aber er sollte es trotzdem kühlen. "Beantworte mir ein paar Fragen, Harry, sorge irgendwie dafür, dass ich dich endlich mal verstehe, denn zurzeit tue ich dies kein bisschen."
Er scheint zu überlegen, sieht mürrisch in meine Augen, verzieht das Gesicht.
Ich brauche diese Antwort, da ich ihn sonst weiter für so jemanden halte, der jeden in seinem Umfeld verletzt. Egal ob ich ihn damit nerve, oder nicht, er es gar nicht will. Doch wenn er möchte, dass es irgendwie alles besser wird, dann sollte er endlich mit mir reden, mir so einiges erklären. Ich selbst werde sonst verzweifeln und nicht nur so geknickt und heulend in meinem Zimmer liegen, wie ich es hier auf dem Boden tat.
"Bitte", flehe ich ihn krächzend an, worauf er dann mit einem Mal nickt, ich kurz schmunzeln muss, dann nach seiner Hand greife, die er nicht zurückzieht.
Sanft liegt meine Hand um sein Handgelenk der verletzen Hand. Schweigend geht er neben mir her, erlaubt diese Verbindung und folgt mir durch das alte Tor, zu seinem Wagen, vor dem ich stehen bleibe, ihn skeptisch mustere.
"Wo... ähm-wo wollen wir, naja, reden?", frage ich ihn, wieder schwach und schüchtern.
"Hast du Hunger?"
"Nicht wirklich, aber wenn du an einen bestimmten Ort willst", antworte ich. "Also es stört mich nicht."
"Dann fahren wir zum Dessert Kiwi", schlägt er vor.
Von dem Laden habe ich noch nie etwas gehört, doch es klingt irgendwie spannend und exotisch, weshalb ich einverstanden nicke und um Harrys Auto rumgehe, um auf der Beifahrerseite einzusteigen.
Er will den Motor starten, als ich ihn stoppe, bittend ansehe und verlegen frage: "Könntest du dich bitte anschnallen?"
Seufzend nickt er, zieht den Gurt nach vorne und schnallt sich wieder an, fährt dann von dem leeren Parkplatz. Mein Blick liegt wieder starr auf den Bäumen, an denen wir vorbeifahren, bis Harry nach einer Minute meine Aufmerksamkeit auf sich zieht.
"Wenn dir kalt sein sollte- hinten auf der Bank liegt eine Decke", spricht er, schaut kurz auf meine zitternden Beine, weshalb ich einfach die Decke von der Rückbank nehme und über meine Beine lege.
Es hilft wirklich, da sie schön warm ist. Deshalb ziehe ich sie noch höher, bis hoch zu meinem Kinn, spüre wieder den vertrauten Geruch von Lavendel und ... naja Harry, in der Nase.
Wir fahren eine Weile, bis wir in der Innenstadt von Corby bei einem kleinen Nightrestaurant halten, beide aussteigen und ich an dem Gebäude hochsehe, an dem Dessert Kiwi steht.
"Wollen wir?", fragt der Mann mich vorsichtig, worauf ich nicke und ihm ins Warme folge.