37. Kapitel

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Harry POV

Gelangweilt saß ich neben Kendall in einem Rang des Londoner Opernhauses. Die Sitzplätze unter uns waren schon längst besetzt und langsam musste die Vorstellung losgehen. Ich war noch nie ein besonders großer Freund der Oper. Meine Mutter hatte mich und meine Schwester früher oft in dieses Haus geführt, doch nie hat mich das, was auf der Bühne geschah, erfasst.

"Harry, zieh nicht so ein Gesicht. Versuche doch wenigstens ein bisschen Freude zu haben."
Kendall saß neben mir und fächerte sich gerade Luft zu.
"Es tut mir Leid. Ich weiß auch nicht, aber meine Laune ist nicht die beste."

"Es war ein langer Tag. Vielleicht hätten wir nicht gehen sollen", sagte Kendall etwas traurig.Ich seufzte. "Nein, nein. Ich freue mich ja. Vielleicht hast du Recht. Ich bin nur ein wenig müde."
Ich lächelte schwach und sah ihr in die braunen Augen.
"Danke, dass wir trotzdem hier sind."

"Natürlich", sagte ich und gab ihr einen Kuss auf den Handrücken.

Ich wusste, dass wahrscheinlich bald der Zeitpunkt kommen würde, an dem Kendall mich küssen wird. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Ich konnte mir einfach nicht mehr vorstellen, überhaupt jemand anderen zu küssen als Louis.

Louis. Ich wünschte, ich könnte jetzt hier mit ihm sitzen. Ich würde ganz heimlich, wenn das Licht ausgehen würde, seine Hand nehmen und sie die ganze Aufführung über halten.

"Vielleicht", sagte ich und starrte gerade nach vorne, "hätten wir Louis... und Eleanor mitnehmen sollen. Sie langweilen sich bestimmt und morgen brechen wir schon wieder auf.

"Oh, das glaube ich kaum", sagte Kendall und kicherte.
"Wie meinst du?"
"Ich bin mir sicher, sie amüsieren sich prächtig. Du musst wissen...- aber sprich Louis nicht darauf an, er weiß nicht, dass ich sie gesehen hatte..."

"J-ja?" Jetzt hatte Kendall meine gesamte Aufmerksamkeit. Nervös blickte ich zu ihr.
"Ich habe gesehen, wie die beiden sich geküsst haben. Als ich den Flur entlang gelaufen bin, um zur Kutsche zu gelangen, standen sie da. Ich glaube, die beiden verstehen sich wirklich gut, den ganzen Tag konnten sie nicht die Augen voneinander lassen."
"W-was?", hauchte ich fassungslos. Meine Hände krallten sich in die Lehnen meines Stuhles, während jemand ein großes schmerzendes Loch in meine Brust schlug.
"Ja! Wäre es nicht toll, wenn die beiden sich verlieben? Ich will nichts zu früh sagen, aber..."

Ich hörte ihr nicht mehr zu. Vor meinem inneren Auge bildete sich ein Bild. Ein widerliches Bild von Eleanor, wie sie Louis küsst. Und wie er sie zurück küsst. Wie er sie anfasst, wie er mich anfasst.

Mein Herz schlug schneller. Bei jedem Schlag tat es ein bisschen mehr weh. Macht Louis mir etwa was vor? Liebte er sie? Wie lange ging das schon?

Ich versuchte, ruhig zu atmen, als das Licht langsam ausging und sich der Vorhang öffnete. Ich biss auf die Innenseite meiner Wange und konzentrierte mich drauf, nicht zu weinen.Wie konnte er mir das nur antun?

Louis POV

Harry kam nicht. Nicht, bevor ich in seinem weichen Bett langsam weg driftete. Ich war so müde und hatte wirklich versucht, wach zu bleiben, allerdings schaffte ich es nicht. Das letzte Mal, als ich auf die Uhr schaute, schlug diese gerade kurz vor Mitternacht. Länger konnte ich mich nicht dazu zwingen, wach zu bleiben.

Da half auch das aufgeregte Kribbeln in meinem Bauch nicht.
Tja, dann musste mein Liebesgeständnis halt bis morgen warten.
Das nächste, was ich mitbekam war, dass die Sonne am Himmel stand. Das Zimmer war hell und die Seite neben mir war leer. Ich fragte mich, wo Harry war, als ich aus dem Bett stieg. Ich hatte noch meine vollständige Kleidung von gestern an. Nur die Schuhe standen vor dem Bett.

Als ich stand, merkte ich meine schmerzende Blase. Schnell rannte ich in Harrys Badezimmer und erleichterte mich.
Wo war er nur? Er wollte doch, dass ich in seinem Zimmer warte, also warum war seine Seite unbenutzt?
Alles war so unklar, wurde jedoch von dem Gedanken an meine Vorhaben überdeckt. Mein Magen überschlug sich wieder. Wie sollte ich es ihm genau sagen? Umschreiben oder direkt raus?Wie würde er reagieren? Mir um den Hals fallen und ebenfalls sagen, dass er mich liebt oder wird er mir nicht glauben?

Frustriert von meinem verwirrten Gedanken trat ich aus dem Badezimmer und sah die offene Balkontür.

Mit gerunzelter Stirn trat ich näher und letztendlich ganz nach draußen. Nicht wie erwartet war der Fluss und dessen andere Seite zusehen, sondern wie in meinem Zimmer der Hinterhof.In diesem stand eine blühende Trauerweide, umringt von Gras und Moos. Hier und da wuchsen Blumen und ein kleiner Steinweg führte zu einer Bank.

Als ich mein Blick abwandte, sah ich ihn. Harry stand mit dem Rücken zu mir, beide Hände breit auf dem Geländer abgestützt.

Er schien mich nicht zu bemerken, darum schlich ich hinter ihn und schlang meine Arme um seine Mitte. Er zuckte etwas zusammen, drehte sich jedoch nicht zu mir.
Ich musste mich ein bisschen strecken, um ihm ins Ohr flüstern zu können. "Guten Morgen."
"Guten Morgen", sagte Harry abgeklärt. Seine Stimme war tief und lag schwer in der Luft. Irgendetwas war mit ihm. Ich ließ meine Arme sinken und legte ihm mit klopfendem Herzen eine Hand auf seine Schulter.

Ich würde es ihm sagen.
Jetzt.

Harry drehte sich langsam zu mir um. Sein Gesicht war sie versteinert. Ohne Emotionen. Nur die Müdigkeit war darin zu sehen, leichte Augenringe und bleiche Haut. War er krank?
"Louis", sagte er immer noch seltsam. Da war etwas, wie er meinen Namen aussprach. Nicht wie sonst leicht und wie ein Gebet. Etwas lief hier schrecklich falsch. Doch ich war zu aufgeregt, um es gleich zu erkennen.
"Du hast nicht geschlafen", stellte ich nur halb bei der Sache fest.
"Ja...", sagte Harry und schluckte, "ich konnte nicht. Ich muss mit dir reden."
"Ich auch", sagte ich lächelnd.Harry schluckte wieder.
"Louis, hast du..."

"Ich liebe dich."

Mein Herz. Ich spürte es nicht mehr. Ich wollte weinen und lachen zugleich. Ich hatte es gesagt. Ich hatte Harry gesagt, dass ich ihn liebte. Einfach so...

Harrys Augen weiteten sich. Sein Mund ging ein Stück auf. Der Schock war ihm deutlich anzusehen.
"W-was?", hauchte er.
Ich war so erleichtert. Eine Last ist gerade von meinen Schultern gefallen, darum sagte ich es noch mal.

"Ich liebe dich." Jetzt lachte ich etwas.
"Ich liebe dich, Harry. Ich weiß, ich war der, der gesagt hat, dass es falsch ist und... und ich war so dumm. Ich liebe dich.
"Und dann... Nichts. Eine ganze Weile sah er mich nur fassungslos an. Langsam bekam ich ein ungutes Gefühl. Zweifel machten sich breit, als Harry wieder schwer schluckte.

"Louis", sagte er und atmete ein, "i-ich... es... ich habe nie von... von Liebe gesprochen."

Nein... verdammt. Nein, nein, nein. Jetzt war ich der, der fassungslos starrte. Ich trat zitternd einen Schritt zurück. Er... er hat nie von Liebe gesprochen?
"A-aber du hast...", fing ich atemlos an."...immer gesagt, dass ich dich will. Nicht, dass ich dich liebe."

"Ich..." Was sollte ich jetzt tun? In meinem Kopf herrschte Leere. Nichts war mehr klar.Ich weinte nicht. Wie auch, wenn ich nicht realisierte, was er gerade gesagt hatte.
"Es tut mir Leid", sagte Harry eisern."Nein", ich ging noch einen Schritt zurück, "mir tut es leid. Ich - es ist... du hast Recht.
Es war nie von Liebe die rede.

"Ein letztes Mal sah ich in Harrys grüne wunderschöne Augen. Sie waren unergründlich. Ein kleiner Teil von mir wünschte sich, dass er mich anlügt. Er glaubte noch daran, dass Harry mich auch liebt, dass er dies aus welchem Grund auch immer gesagt hatte. Der andere, viel viel größere Teil realisierte die Wirklichkeit.
Harry war der Erste, der den Blickkontakt brach. Sein Blick senkte sich zu Boden und mein Herz zersprang ganz.
Meine Beine wussten noch, wie sie laufen müssen. Ich ging. Verschwand von dem Balkon, aus dem Zimmer. Lief über das Treppenhaus wie gesteuert in das Zimmer, welches mir war.
Als ich unter die Decke kroch, schaltete alles ab. Mein Körper, mein Kopf, meine Gefühle. Alles war schwarz.
Doch die Dunkelheit war so viel schlimmer als der Schmerz.
Der Schmerz, der sicherlich noch kommen würde.

Time Against Us • Book IWhere stories live. Discover now