9. Kapitel

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Harry POV

Wütend stampfte ich in mein Zimmer. Ich knallte die Tür hinter mir zu und machte mich daran, mir meine Uniform anzuziehen. Ich hasste dieses Ding. Sie erinnerte mich an meinen Vater, was mich nur noch wütender machte. Ich war so wütend. Auf mein Vater, auf Louis... Nein, auf die Männer, die Louis das angetan hatten und auf mich. Auf mich, weil ich so ein eingebildeter Vollidiot war und auf mich, weil ich nicht da war, als Louis überfallen wurde und auf mich, auf mich, auf mich, auf mich...

Tränen brannten mir in den Augen. Schon wieder. Ich heulte, weil ich so ein schlechter Mensch war, weil ich nichts hinbekam, weil ich keine einzige Erwartung erfüllte und weil ich nicht da war. 
Verzweifelt über mich selbst raufte ich mir die Haare und lief in meinem Zimmer auf und ab. Irgendwann hörte ich ein zaghaftes Klopfen.

"Ja?!", fragte ich. Gemma trat herein.

"Harry, kommst du?" 
Ich nickte schnell und knöpfte die Jacke meiner dunkelgrünen Uniform zu. Gemma trug ebenfalls ein Kleid, das die Farbe Grün hatte. Goldene Stickereien zierten die Ränder ihrer halb-langen Ärmel und den Saum vom Rock. An ihrer Brust steckte eine Brosche mit dem Wappen unserer Familie. Ein Vogel von der Seite, mit ausgebreiteten Flügeln, auf dem Grund einer Ritterlilie. Gemmas Haar war nach oben gesteckt. Sie sah toll aus, wie eigentlich immer.

"Alles in Ordnung, kleiner Bruder? Wie geht es Louis?", fragte sie mich, als wir die Gänge zum Fürstensaal entlang liefen.

"Ja alles okay", ich schluckte einmal schwer, "Ihm geht es schon besser." Nach einer kurzen Pause fügte ich noch hinzu: "Du weißt nicht zufällig, was uns Vater uns mitteilen will, wenn er solche Geschütze auffährt?"

"Nicht direkt, aber ich kann es mir denken..." Sie sprach nicht weiter, da wir schon vor der großen Tür standen. Zwei Diener ließen auf mein Zeichen die beiden Flügel aufschwingen, sodass wir Blick auf die vielen Menschen an der großen Tafel hatten.

Mein Vater, der am Kopfe der Tafel saß, erhob sich mit geöffneten Armen. "Sohn, Tochter. Kommt zu uns!" 
Sogleich schritten wir los, Gemma auf der einen Seite und ich auf der anderen. Wir ließen uns an unseren gewohnten Plätzen nieder. Gemma an der Ecke neben Mutter und ich ihr gleich gegenüber neben Vater. 
Die Tafel war wirklich voll besetzt von allen wichtigen Offizieren, obersten Wachen und anderen Leuten, die ich mir nicht genau ansah. Meine Gedanken kreisten immer noch um Louis und um meine Dummheit. 
Ein Diener schenkte mir Wein ein, den ich unauffällig mit einem Schluck leerte. Ich musste jetzt an was anderes denken. Unser Vater hatte anscheinend etwas Wichtiges zu sagen und da konnte ich mir Ablenkung nicht erlauben.

Gemma und ich schienen die Letzten gewesen zu sein, weshalb es nach unserer Ankunft auch still im Raum wurde. Langsam erhob unser Vater sich, um auch die letzten zum Schweigen zu bringen. Bevor er in die Runde schaute, schien er noch einmal in sich zu gehen.

"Gäste", fing er theatralisch an. "Nein.... Freunde. Als aller erstes möchten ich und meine Frau sie herzlich in unserem Haus willkommen heißen! Ich weiß wie schwer es gerade zu dieser Zeit hier im Lande ist, und sich bei so was auch noch um Feste zu kümmern, scheint sinnlos. Doch ich möchte euch sagen, vergesst den Ärger für einen Abend und seid fröhlich und unbeschwert mit uns! Denn wir haben einiges zu feiern! Einerseits die Verlobung meiner wunderschönen Tochter Gemma mit Sir Liam. Unsere Familie ist wirklich glücklich geschätzt, eine Verbindung mit dem Paynes einzugehen!" Drauf bekam mein Vater Jubel und Beifall - als würde er verheiratet werden und nicht Gemma. Zum Glück verstanden sie und Liam sich nur zu gut. Allerdings kann ich dieses eine Gespräch nicht vergessen...

Die Bekanntgabe der Verlobung war vorbei und auch das Fest, das darauf gefeiert wurde. Unser Land würde erweitert werden. Meine Schwester würde Liam Payne heiraten und so würde das Nachbarland teils in unseren Stammbaum fliesen. Mein Vater war mehr als zufrieden, denn so würden sich die finanziellen und wirtschaftlichen Probleme lösen, die durch die Industrialisierung immer größer wurden. Unsere Familie war auf dem Land noch eine der vermögendsten und unsere Ländereien die größten und schönsten, doch mein Vater dachte schon Jahre voraus. Wenn die Leute weiter so in die Städte flüchten, würden es bald keine Arbeiter mehr geben.... Vielleicht war es das, weshalb wir einer der größeren Familien waren. Schon mein Urgroßvater wusste, wie man einen Stammbaum richtig führt. Ich wusste nicht, wie ich das einmal übernehmen sollte. 
Doch jetzt stand ich erst einmal vor Gemmas Tür und klopfte zaghaft an. Sie antwortete nicht, was mich jedoch nicht davon abhielt, einzutreten. 
"Gemma?", fragte ich in das halbdunkle Zimmer. Das einzige Licht fiel vom offenen Fenster herein. Die Nacht war klar und der Mond fast voll. Das Zimmer war in den Geruch von Kerzenwachs gehüllt, der von einer fast abgebrannten Kerze ausging. An dem Tisch, an dem diese stand, saß Gemma, in ihr Nachtgewand gekleidet. Sie starrte unablässig auf die Kerze vor sich und ich dachte schon, dass sie weinen würde. Doch anders als erwartet bemerkte ich, als ich näher trat, dass sie schwach lächelte. Vertieft ins Spiel der Flamme starrte sie auf die lustigen kleinen Zungen, wie sie sich ins Nichts schlängelten. Leise nahm ich gegenüber von ihr Platz. 
"Das Fest ist vorbei", teilte ich ihr mit, ohne wirklich zu wissen, was ich Schlaues sagen könnte. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich jetzt mit ihr reden sollte. Anstatt einer Antwort nickte Gemma nur. 
"Es...", fing ich unbeholfen an. "Es tut mir leid." 
Gemma seufzte und sah mir dann in die Augen, sie lächelte noch immer. 
"Das muss es nicht, Harry." Sie machte eine kurze Pause, um zu überlegen, wie sie ihre Gefühle am besten ausdrückt. "Es hätte mich so viel Schlimmer treffen können. Es ist Liam. Ich mag ihn, ich weiß nur nicht, ob ich ihn mir je selber ausgesucht hätte zum Heiraten, doch ich kenne ihn und ich mag hin und dies ist mehr Glück, als ich verdiene."

"Du verdienst jemanden der dich liebt. Den du liebst."

Gemma lächelte wieder und schüttelte leicht den Kopf "Harry, Bruder. Verstehe, ich werde einen Freund heiraten. Mich hätte es so viel schlimmer treffen können, und im Moment bin ich nicht verliebt. In keinen, das macht es so viel einfacher. Und ganz vielleicht hab ich irgendwann das Glück ihn zu lieben. Einfach aufzuwachen und in ihm mehr zu sehen, als nur einen Freund. Dasselbe geht für ihn." 
 

'Und vielleicht hab ich irgendwann das Glück, ihn zu lieben...’ Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Und ich musste unwillkürlich Gemma ansehen, die ziemlich zufrieden aussah und wie immer unglaubliche Stärke ausstrahlte. Ich wünschte ihr dieses Glück so sehr.

"...und genau deswegen führt mich mein Weg nach Irland. Nächste Woche werden ich und meine Männer aufbrechen. Ich hoffe es lohnt sich für unsere Länder."

Was!? Verdammt, ich hatte die Hälfte überhört, so in Gedanken war ich. Mein Vater macht eine Reise nach Irland? Warum? Nächste Woche schon... Wie lange? Meine Gefühle änderten sich von einer Sekunde auf die andere. Erst schlug mein Herz bis zum Hals, doch dann breitete sich plötzlich eine unglaubliche Erleichterung in mir aus. Mit dem Gedanken, dass all der Druck einer Hochzeit weg wäre und dass ich nicht unterdrückt werden würde. Ich blickte verwirrt das wieder volle Glas Wein vor mir an und kippte es in meinen Rachen. Meine Gedanken drehten sich. Mein Vater hatte nichts erwähnt. Er wollte mich nicht dabei haben, das löste nur noch mehr Erleichterung in mir aus.

"...Und damit" –Verdammt, was hatte ich jetzt schon wieder verpasst? "Möchte ich meinem Sohn die Verantwortung für unser Reich erteilen. Harold, pass gut auf unser Land auf, genau wie ich es tun würde."

"Natürlich Vater", antwortete ich mit fester Stimme. Wie mir das gelungen ist?

"Ich zweifle keine Sekunde an dir, Junge." Das war mir ebenfalls neu. 
"Und nun Freunde, lasst uns speisen!"

Time Against Us • Book IWhere stories live. Discover now