xXx Kapitel 34 xXx

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Tags darauf brachen wir unsere Zelte ab. Kian und Nils hatten beschlossen, dass sie sich von ihrer Gruppe trennten und zusammen mit mir und Helena zum nächstgelegenen etwas größeren Dorf fuhren. Da Helena die Tochter des Königs war, hatte sie oberste Priorität. Ihr Vater hätte wohl kaum etwas dagegen einzuwenden, wenn Kian und Nils ihretwegen ihren eigentlichen Auftrag missachteten. Schließlich konnte es hier draußen in der Wildnis gefährlich werden, da wäre sie in einem Dorf deutlich besser aufgehoben. Dies jedenfalls erzählten sie ihren Kameraden und im Grunde genommen entsprach es auch der Wahrheit. Nur dass wir nicht vor hatten, lange in diesem Dorf zu verweilen, denn unsere oberste Priorität galt nach wie vor Sam. Wir mussten einen Weg finden, wie wir ihm helfen konnten.

Nils und mein Bruder fuhren beide jeweils ein Schneemobil mit Anhänger und spurten für mich eine schmale Piste, auf der ich mit den Schlittenhunden etwas schneller vorankam. Helena war wie immer mit Cara unterwegs. Die beiden suchten sich etwas abseits von uns einen Weg durch den Schnee. Ich glaubte, dass sie noch immer etwas Zeit für sich brauchte. Zudem waren die Geräusche und Abgase der Schneemobile alles andere als beruhigend und wollten so gar nicht in diese verträumte Schneelandschaft passen.

Als die Sonne am höchsten stand, rasteten wir am Rande eines Wäldchens. Während die Jungs das Feuer entfachten, um anschließend das Mittagessen zu kochen, machte ich einen Spaziergang. Meine Füße waren vom langen stehen auf dem Schlitten eiskalt geworden. Es tat gut, sich ein wenig zu bewegen. Ich wagte mich in den Wald hinein, da dort etwas weniger Schnee lag und ich schneller vorankam. Völlig in Gedanken versunken suchte ich mir einen Weg zwischen den Bäumen hindurch und versuchte dabei in Reichweite der anderen zu bleiben.

„Wen haben wir denn da?"

Erschrocken fuhr ich herum und erblickte eine mir nur allzu gut bekannte Gestalt. Dieses Mal saß er auf einem Ast. Sein langer schwarz gepunkteter Schwanz hing wie eine Schlange von Ast hinunter und schwankte bedrohlich hin und her – der Schneeleopard.

„Du wagst es, mir nochmals über den Weg zu laufen?", fuhr ich ihn wütend an, „Deinetwegen wäre ich beinahe in einem See ertrunken. War das dein Plan? Dass ich sterbe und du dich dann über meine Überreste hermachen kannst?"

Der Schneeleopard ließ ein hämischen Lachen hören, schüttelte dann aber kaum merklich den Kopf.

„Dummer Mensch. Wenn ich dich fressen wollte, hätte ich es längst getan."

Damit hatte er natürlich Recht. Ich trug keine Waffen bei mir, um mich gegen ein hungriges Raubtier zur Wehr zu setzen. Zudem war im tiefen Schnee nicht an eine Flucht zu denken. Was auch immer der Schneeleopard sich dabei erhoffte, mein Tod war es jedenfalls nicht.

„Ich habe dir deinen sehnlichsten Wunsch erfüllt. Ich habe dich zu deinem Bruder geführt. Das mit dem Unfall hätte nicht sein müssen, aber du lebst und das ist die Hauptsache", fuhr die Raubkatze mit ruhiger Stimme fort.

Ich horchte auf. Das Ganze war also geplant gewesen. Kian hatte mich nicht zufälligerweise getroffen, es hatte von Anfang an zum Plan gehört, der um ein Haar schief gelaufen wäre.

„Ähm... Danke", brachte ich verdutzt über meine Lippen.

Der Schneeleopard neigte seinen Kopf, „Nichts zu danken."

Erneut brachte er mich in Verlegenheit, „Warum hast du das getan? Was hast du davon, wenn du einem verirrten Menschen das Leben rettest?"

„Nicht irgendeinem verirrten Menschen, ich habe dir das Leben gerettet. Das ist ein entscheidender Unterschied."

„Warum?"

„Weil wir auf derselben Seite kämpfen. Wir beide wollen, dass es endlich zu tauen beginnt und die Pracht, die unser Land einst krönte wieder zum Leben erwacht", erklärte er mir, während ich nicht verstand, worauf er hinaus wollte. Mein einziges Ziel war es Sam zu retten.

Gerade als ich etwas erwidern wollte, hörte ich Schritte hinter mir. Kian näherte sich.

„Das Essen ist bald fertig", teilte er mir mit.

Gerade als ich ihm vom Schneeleoparden erzählten wollte und nochmals einen Blick zum Ast hinüber warf, war er spurlos verschwunden. Erneut zweifelte ich an mir und fragte mich, ob das erneut ein Hirngespinst war. Vielleicht tat mir die Kälte wirklich nicht gut.

„Ich komme gleich", antwortete ich meinem Bruder geistesabwesend, lief auf den Baum zu, auf dem er gesessen hatte, doch da war nichts zu sehen. Was auch immer der Schneeleopard für ein Wesen war, er kam mir sehr suspekt vor.

Während des Essens plauderten wir miteinander und bald war der Schneeleopard wieder vergessen. Nils erzählte uns von dem Dorf, in dem er aufgewachsen war. Seine Eltern erwarteten von ihm, dass er Soldat wurde und dem König diente. Leute aus den Dörfern nahe der Stadt waren gern gesehene Soldaten, da sie sich besser in der Natur auskannten, als jene, die in der Stadt aufgewachsen waren. Denn so könnte er genügend Geld verdienen, um seine Familie zu versorgen. Insgesamt hatte er sechs jüngere Geschwister, die allesamt in einer kleinen Holzhütte wohnten. Seit sein Vater während eines Unfalls beim Holzfällen einen Arm verloren hatte, war er nur noch bedingt arbeitsfähig und die Existenz der Familie geriet in Gefahr. Da lag es nahe, dass der älteste Sohn seine Rolle übernahm und für das Einkommen der Familie sorgte.

Helena war von seiner Geschichte hin und weg. So viel Aufopferung für seine Familie schien sie nicht zu kennen. Ganz anders war es bei mir und Kian. Wir beide hätten alles füreinander gemacht.

„Irgendwann wenn ich mit meiner Ausbildung zum Soldaten fertig bin, werde ich zu ihnen zurückkehren und mir eine Arbeit im Dorf suchen", beendete er seine Geschichte.

Er hatte einen Plan, ich hingegen nicht. Wenn es mir nicht gelang Sam zu retten, müsste ich gar nicht erst in die Stadt zurückkehren. Denn das einzige, was dort noch weniger geachtet wurde als unverheiratete Frauen, waren verwitwete Frauen.

„Und wie war dein Leben bisher?", die Frage war an Helena gerichtet. Nils musterte sie neugierig. Über Kians und meine Situation war er wahrscheinlich schon bestens informiert, da er mit Kian bereits mehrere Wochen hier draußen unterwegs war und sie bestimmt schon das eine oder andere Mal über ihre Vergangenheit gesprochen hatten.

Helena schien zu überlegen, was sie ihm antworten sollte. Wahrscheinlich hatte sie ein schlechtes Gewissen, da sie ein vergleichsweise gutes Leben geführt hatte.

„Es war ganz in Ordnung", antwortete sie verunsichert.

„Erzähl mir mehr vom Leben im Palast, du brauchst vor uns kein Blatt vor den Mund zu nehmen", versuchte Nils sie zu ermuntern.

„Um ehrlich zu sein, ist es gar nicht so toll im Palast zu leben. Klar, ich musste mir niemals Sorgen um meine Existenz machen, dafür war ich oft alleine. Mein Vater mochte es nicht, wenn ich mich mit Leuten traf, die nicht unserem Stand entsprachen."

Ich war mir sicher, dass sie dabei an Sam dachte. Meine Gedanken schweiften ab und kamen erst zurück, als sich das Gespräch dem Ende neigte.

„Eigentlich bin ich ganz froh, hier draußen bei euch zu sein. Ihr habt mir klar gemacht, dass es tatsächlich so etwas wie Freundschaft gibt. Leute die zu dir halten, wenn alles den Bach hinunter geht. Leute die dir helfen und dabei keine Gegenleistung erwarten, dass es mehr auf der Welt gibt als nur Geld."

Wie Recht Helena mit ihren Worten hatte. Schade, dass ihr Vater ihr diese Werte niemals vermittelt hatte und kein Wunder, dass sie Sam Anfangs als ihr Eigentum betrachtete hatte, dass ich ihr versuchte weg zu nehmen.

„Dann scheint diese elende Reise wenigstens etwas Positives an sich zu haben", bemerkte Nils, dessen Aussehen nicht gegensätzlicher zu Helenas hätte sein können. Von Anfang an hatte ich vermutet, dass er nicht aus Nordstadt kam. Sein rabenschwarzes Haar und seine verhältnismäßig gebräunte Haut hatten ihn verraten.

Helena lächelte und das erste Mal seit ich sie kannte, glitzerte ihre Augen auf eine Art und Weise, die ich nur aus ihren Erinnerungen kannte. Nils schien in ihr etwas wach gerüttelt zu haben, an das sie gar nicht mehr geglaubt hatte.

Was für Überraschungen diese Reise wohl sonst noch für uns bereit hielt?

Eissplitter - Kalt wie SchneeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt