xXx Kapitel 1 xXx

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Es waren keine vierundzwanzig Stunden vergangen, seit es an meiner Haustür geklingelt hatte. Sam hatte vor der Tür gestanden, nach dem er sich ganze vier Jahre nicht blicken liess. Beinahe hätte ich ihn nicht wieder erkannt. Seine Gesichtszüge waren erwachsener geworden. Er sah definitiv nicht mehr wie der achtzehnjährige Junge aus, der in den Wehrdienst der Stadt eingeteilt wurde. Erst hatte ich mich darüber gefreut, ihn nach so langer Zeit wieder zu sehen. Erst als er mir verkündete, weshalb er vorbeigekommen war, änderte sich alles. Ohne eine Miene zu verziehen teilte er mir mit, dass er mich heiraten würde.

In diesem Moment hasste ich diese Stadt mehr als jemals zuvor. Die Stadt und vor allem all diese strikten Regeln, die hier galten. Es stand den Männern zu, sich eine Frau auszusuchen und diese zu heiraten. Die Frau hatte dabei kaum Mitspracherecht. Die einzige Bedingung war, sie musste volljährig sein. Da ich vor wenigen Tagen achtzehn Jahre alt geworden war, erfüllte ich nun auch dieses Kriterium. Ich hatte das Alter erreicht um zu heiraten und Sam schien dies schamlos auszunutzen.

Wenn mein Bruder Kian nur hier wäre. Er hätte nicht zugelassen, dass irgendein dahergelaufener Typ mich heiraten würde.

All die Jahre hatte er mich beschützt. Wir wohnten zusammen in einer kleinen Wohnung in einem alten Kriegsschiff, das sich am Rande der Stadt befand. Alle Jungs wussten, dass sie die Finger von mir lassen mussten. Ansonsten riskierten sie Ärger mit Kian. Wie dieser Ärger aussah, war allgemein bekannt. Einmal hatte einer seiner Kollegen versucht, mich in einen verlassenen Raum zu zerren. Zu seinem Pech kam Kian genau in diesem Moment den Flur entlang gelaufen. Nach dem mein Bruder mit ihm fertig war, musste er ins Krankenhaus eingeliefert werden und wurde seither nie wieder gesehen.

Leider begann mit der Volljährigkeit meines Zwillingsbruders auch dessen Verpflichtung dem Wehrdienst gegenüber. Dieser dauerte geschlagene zwei Jahre. Während diesen zwei Jahren würde er in armeeeigenen Unterkünften untergebracht werden und dabei komplett von der Aussenwelt isoliert sein. Auch nach Ablauf dieser Zeit war es ungewiss, ob er wirklich irgendwann zurückkehrte. Das beste Beispiel hierfür war Sam. Selbst seine Schwester hatte in den letzten vier Jahren kaum etwas von ihm gehört. Der einzige Kontakt, den sie zu ihrem Bruder hatte, war ab und zu ein Brief von ihm.

Mailin, Sams Schwester hatte den Raum betreten und stand nun vor mir. Sie legte alles daran, dass dies ein unvergesslicher Tag für ihren Bruder werden würde. Alles müsste perfekt sein, da spielte es keine Rolle, wie es mir dabei erging.

Kritisch beobachtete sie mich. Auf ihrer Stirn zeichneten sich Falten ab, während sie seufzend mit ihrer Hand durch mein schulterlanges Haar strich.

„So können wir sie nicht lassen", meinte sie eher zu sich selbst, als zu mir und eilte schnell aus dem Raum.

Alleine stand ich nun mitten in diesem prunkvollen Raum. Vor mir mein Hochzeitskleid und hinter mir ein grosser Spiegel an der Wand. Ein Stuhl stand vor dem Spiegel, darauf müsste ich mich wahrscheinlich setzten, wenn Mailin meine Frisur machte.

Ich hätte fliehen können. Es wäre ein leichtes gewesen, doch wohin? Zu Hause würden sie mich finden. Einen anderen Unterschlupf hatte ich nicht und draussen war es viel zu kalt. Ganz nebenbei würde mich die Sicherheitspolizei schneller aufgabeln als mir lieb wäre, wenn ich mitten in der Nacht während der Sperrstunde draussen herumirrte.

Mailin kam zurück, in ihrer Hand ein grosser Stoffbeutel. Ihr hellblondes Haar reichte ihr bis zur Hüfte und sah ein wenig zerzaust aus. Ihrem eigenen Aussehen hatte sie bisher noch keine Zeit gewidmet. Ich war diejenige, die höchste Priorität hatte.

„Setz dich", Mailin deutete auf den Stuhl vor dem Spiegel.

Ich schaute sie mit ernster Miene an, richtete meinen Blick dann aber zu Boden. Sie hatte gewonnen. Ich setzte mich auf den Stuhl und schaute mich im Spiegel an. Mein dunkelbraunes Haar war eine Seltenheit in dieser Stadt. Die meisten hatten helles Haar, wahrscheinlich weil wir so weit im Norden lebten. Hier war es eigentlich immer eiskalt, zwischen Sommer und Winter gab es kaum einen Unterschied. Meine Haut war genauso blass wie die aller andern, weshalb meine dunkelbraunen Augen einen starken Kontrast boten. Schon oft wurde mir gesagt, dass ich gutaussehend sei. Vielleicht gerade weil meine Haarfarbe ziemlich selten war. Zwar hatte Kian auch braunes Haar, seines war aber um einiges heller als meines.

Mailin flocht mir eine aufwändige Frisur, wobei sie unzählige Glitzersteinchen in mein Haar hinein steckte. Unter anderen Umständen hätte ich diese Frisur traumhaft gefunden, aber im Moment war mir nur zum Heulen zumute.

Kaum war meine Frisur vollendet, drehte Mailin den Stuhl um 180 Grad und widmete sich meinem Gesicht. Als sie mich fertig geschminkt hatte, hätte ich mich kaum wieder erkannt. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals in meinem Leben so viel Make-up in meinem Gesicht gehabt zu haben. Trotz des vielen Make-ups sah es aber keineswegs schlecht aus, Mailin schien es im Griff zu haben, andere Leute herauszuputzen.

Sie schaute mich an und nickte anerkennend, zufrieden mit dem Werk, das sie gezaubert hatte.

„So kannst du dich den Leuten präsentieren", zum ersten Mal an diesem Morgen huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.

Präsentieren, nur schon wie dieses Wort klang. Als sei ich eine Trophäe, die jeder bewundern sollte. Vielleicht war genau dies Sams Ziel?

Sie schaute in den Spiegel und verzog augenblicklich ihre Miene, „Leider kann man das von mir noch nicht behaupten."

„Du hast noch Zeit, um dich hübsch zu machen. Es ist sowieso noch zu früh, um das Kleid anzuziehen. Ich kann solange warten", schlug ich vor, in der Hoffnung nochmals ein bisschen entspannen zu können, bevor der ganze Rummel los ging.

„Natürlich kannst du warten. Je länger du warten kannst, umso besser für dich", kam Mailins prompte Antwort, „Aber du hast recht. Irgendwann muss ich mich auch noch bereit machen. Ich habe nur ein paar Minuten, dann können wir uns dem Kleid widmen."

„Kein Problem."

Lass dir ruhig Zeit, fügte ich in Gedanken hinzu. Wortlos gab ich Mailin den Platz vor dem Spiegel frei und machte es mir auf dem weichen Teppich am Boden bequem. Mailin setzte sich auf den Stuhl, während ich sie beobachtete.

„Weisst du, warum er sich ausgerechnet für mich entschieden hat?", fragte ich neugierig. Diese Frage hatte mir Sam bisher nicht beantwortet. Um genau zu sein, hatte er kaum mit mir gesprochen.

Mailin zuckte mit den Schultern, „Ich dachte, dass könntest du mir sagen. Allzu viel Informationen hat er mir nicht gegeben."

Mailin war zwei Jahre älter als Sam und hatte mit zwanzig Jahren geheiratet. Ganz im Gegensatz zu mir war sie damit einverstanden gewesen, denn sie heiratete ihre Jugendliebe. Bei mir hatte es sowas nie gegeben. Jetzt wo ich darüber nachdachte, wurde mir auch klar weshalb. Kein Typ hätte sich auch nur in meine Nähe getraut, solange mein Bruder in der Nähe war. Selbst die nicht, die mir vielleicht gefallen hätten.

Eissplitter - Kalt wie SchneeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt