xXx Kapitel 23 xXx

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„Du warst schon einmal in diesem Dorf!", fuhr ich Sam wütend an, als wir die Häuser hinter uns gelassen hatten und durch den tiefen Schnee stampften. Die Sonne war hinter den Bergen aufgegangen, eine riesengrosse, goldene Kugel mitten am Himmel. So hell und leuchtend hatte ich die Sonne noch nie in meinem Leben gesehen. Leider hatte ich keine Zeit, ihre vollkommene Schönheit zu bewundern.

Sam legte seine Stirn in Falten und dachte nach. Er schien sich zu überlegen, woher ich wusste, dass er schon einmal hier gewesen war.

„Einmal vielleicht, aber das ist Jahre her", er schloss zu mir auf, griff nach meinem Arm und drehte mich in seine Richtung.

„Warum hast du es auf einmal so eilig?", wollte er mit ernster Miene von mir wissen.

Ängstlich warf ich einen Blick zurück ins Dorf. Inzwischen hatten sich einige Leute auf die Strassen gewagt. Einige blickten in unsere Richtung und ich war sicher, dass sie dabei nicht lächelten.

„Du hast also nichts getan, womit du die Dorfbewohner verärgert haben könntest?", ich verschränkte meine Arme und hielt seinem Blick stand.

Er liess meinen Arm los und schaute nachdenklich in die Ferne. Konnte es sein, dass er sich kaum an seinen Besuch im Dorf erinnerte? Verunsichert wandte er sich wieder mir zu.

„Vielleicht habe ich sie ein wenig verärgert. Ich weiss es nicht, ich kann mich nur schleierhaft daran erinnern."

Sam konnte sich kaum daran erinnern, dass er einen Mann umgebracht hatte. Was war los mit ihm? Mein Verdacht, dass es etwas mit dem König - Helenas Vater - zu tun hatte, schien sich zu bestätigen.

„Woher weisst du, dass sie verärgert sind?", jetzt war Sam es, der die Fragen stellte. Ich wandte mich um und lief weiter. Sam folgte mir auf Schritt und Tritt. Ich wollte ihm nicht von meiner Fähigkeit erzählen. Es war nicht normal, dass man fremde Gedanken lesen konnte, Sam würde mich für verrückt erklären. Ich hielt kurz inne, würde er das wirklich tun? Wenn jemand nicht normal war, dann er und abgesehen davon hatte er Cara gesehen, wie sie sich verwandelt hatte.

„Ich konnte ein paar Gedankensplitter des Metzgers erhaschen, als er ins Rathaus stürmte", versuchte ich Sam zu erklären.

„Gedankensplitter?", überraschte wandte er seinen Kopf in meine Richtung.

„Ach egal", fügte er nach wenigen Sekunden hinzu, während wir weiter durch den Schnee stampften, „Was hast du gesehen?"

In wenigen Worten erzählte ich ihm das, was ich eben miterlebt hatte. Gespannt wartete ich auf seine Reaktion, doch er schwieg. Vielleicht musste er diese schweren Vorwürfe selbst erst einmal verdauen.

„Du erinnerst dich überhaupt nicht?", fragte ich neugierig. Den grössten Teil des Weges zur Kirche hatten wir inzwischen zurückgelegt.

„Jetzt, da du mir die Geschichte erzählt hast, sind einige Erinnerungen zurückgekommen. Ich weiss, weshalb mir dieses Dorf von Anfang an so bedrohlich vorgekommen ist."

„Das Dorf? Du warst die Bedrohung!", korrigierte ich ihn perplex, „Was war mit dir? Warum hatten deine Augen eine stechend rote Farbe?"

Rot... Erneut wurde in mir etwas wach gerüttelt und dann traf mich die Erkenntnis wie ein Blitz.

„Damals, als ich dich blutüberströmt auf dem Balkon fand, für einen Augenblick hatte ich geglaubt, dass deine Augen rot aufblitzten", fassungslos blieb ich stehen. Ich wollte Sam hier und jetzt zur Rede stellen.

„Was ist mit dir los? Was hat der König damit zu tun? Was hat er dir angetan und wie um Himmelswillen sieht deine Arbeit aus? Schickt der König dich jeden Tag los, um Menschen zu töten und Dörfer zu zerstören?"

Sam zog an meinem Arm. Er wollte, dass wir so schnell wie möglich die Kirche erreichten. Als wir an unserem Ziel angelangt waren, hatte er keine meiner Fragen beantwortet. Wir stürmten in die Kirche hinein, in der uns Helena, die mit verschränkten Armen auf dem Altar sass, erwartete.

„Wo seid ihr so lange gewesen?", wollte sie mit genervtem Unterton in ihrer Stimme wissen.

„Wir haben uns etwas zu Essen für die Weiterreise besorgen", antwortete Sam knapp, als er sich bereits den Huskys zuwandte und die ersten beiden nach draussen brachte.

Helena funkelte mich böse an. Natürlich glaubte sie, dass Sams abweisende Art etwas mit mir zu tun hatte. Sie sprang vom Altar hinunter und landete direkt vor meinen Füssen, „Ich habe dir gesagt, dass du ihn in Ruhe lassen sollst!"

Ich verzog mein Gesicht zu einer Grimasse, „Das mache ich bereits die ganze Zeit! Du weisst, dass ich nicht die Macht dazu habe, seine Gedanken zu kontrollieren. Er ist ein freier Mann, der tun und lassen kann, was er möchte."

Kaum hatte ich den Satz beendet, wurde mir klar, wie Unrecht ich hatte. Wie es schien konnte Sam nicht immer selbst entscheiden, was er tat.

Zu meinem Erstaunen schien sich Helena wieder zu beruhigen. Sie ging hinüber zu Cara und schloss sie fest in ihre Arme. Cara schmiegte ihren Kopf an Helena, während sie mich mit ihren goldbraunen Augen musterte. Wenn diese Sage der Seelenhunde wirklich der Wahrheit entsprach, galt sie dann auch für Wesen wie Cara eines war? Helena und sie schienen wie durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden zu sein.

„Wann warst du mit Sam zusammen?", fragte ich, als Sam gerade erst mit den nächsten beiden Hunden durch die Tür verschwunden war.

Helena warf mir einen finsteren Blick zu, doch dann schien ihre Miene aufzuhellen

„Es war etwa ein halbes Jahr nach dem Sam seine Ausbildung begonnen hatte."

Das war inzwischen ungefähr zweieinhalb Jahren her und Helena trauerte ihm immer noch nach? Machte Liebe wirklich so blind?

„Du hast es die ganze Zeit nicht geschafft über ihn hinweg zu kommen?", fragte ich sie überrascht.

Helena schüttelte ihren Kopf, ihr helles Haar flog durch die Luft, „Wir haben uns immer mal wieder gesehen und waren miteinander befreundet. Bis er sich schliesslich vor etwa einem Jahr komplett zurückgezogen hat. Ich bekam ihn kaum noch zu Gesicht und wenn, dann war er irgendwie so abweisend."

Nun hatte ich ganz viele Erinnerungen an Sam. Splitter aus seiner Vergangenheit, die ich in der richtigen Reihenfolge zusammenfügen musste. Splitter, deren Zusammenhang ich herausfinden musste um endlich zu begreifen, was genau vor sich ging.

Sam hatte sich grundlos von Helena getrennt. Ob er zuvor bereits eine Spielfigur des Königs war oder erst nach ihrer Trennung, wusste ich nicht. Jedenfalls griff er irgendwann in diesem Zeitfenster im Namen des Königs das Dorf an. Schliesslich wandte er sich vor gut einem Jahr komplett von Helena ab und heiratete mich wie aus dem nichts heraus. Schlussendlich entdeckte ich eine seltsame Gestalt auf meinem Balkon, die sich als Sam herausstellte. Er war angegriffen worden, doch von was und vor allem weshalb? War er erneut der Böse gewesen? War Sam bloss eine Marionette des Königs, die jetzt seine Tochter beschützen musste, um die er sich so sehr fürchtete? Mir fehlten zu viele Bruchstücke, um genau zu wissen was hier vor sich ging. Was war Sam und war es der König, der ihn zu dem gemacht hatte, was er jetzt war? Oder war Sam schon immer so gewesen? War es eine Fähigkeit sich zu verwandeln, ähnlich der meinen - Gedanken zu lesen?

Nur eines war mir klar, an dem Tag als er Helena überstürzt verliess, musste etwas in seinem Leben geschehen sein. Genauso vor einem Jahr, als er sich erneut komplett veränderte. Ich wusste, dass Sam mir darüber nichts erzählen würde und Helena hatte alles gesagt, was sie wusste.

Immer mehr stach der Gedanke aus meinem Bewusstsein, dass der König nicht zu den Guten gehörte. So ehrenvoll sein Vorhaben sein mochte Helena zu beschützen, so viel Böses brachte er gleichzeitig über sein Land.

Ein lautes Bellen holte mich aus meinen Gedanken. Ich schaute zur Tür und entdeckte Tikaani, die an ihrem Halsband zerrte und mich nicht aus den Augen liess.

„Wir müssen aufbrechen", sagte Sam zu mir und versuchte Tikaani nach draussen zu führen.

„Geh, ich komme gleich nach", flüsterte ich der Hündin zu, wie auf mein Kommando folgte sie Sam widerstandslos nach draussen.

Eissplitter - Kalt wie SchneeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt