VI - Vinja (7/8)

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Drinnen war es dunkel. Für einen Moment sah sie nur undeutlich, was im Innern auf sie wartete. Der Raum war viel größer als Hiljos Schneiderei und die Theke, die es gab, befand sich ein ganzes Stück weiter hinten. Im Halbdunkeln konnte Vinja dort die Umrisse einer kleinen Gestalt erkennen.

»Vinja?«

Vinja erschrak sich so sehr, dass sie stolperte und beinahe hingefallen wäre. Sie kannte die Stimme, hatte aber nicht damit gerechnet, sie jemals wieder zu hören. Die Gestalt hinter der Theke hatte sich aufgerichtet und kam nun auf sie zu. Als Vinjas Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, bestätigten sie, was sie schon am Klang der Stimme erkannt hatte.

Es war Masia.

Sie sah besser aus als nach der Reise über die Straße nach Ijaria. Von Vinja schien Masia das Gleiche nicht sagen zu können, denn sie machte ein besorgtes Gesicht und ohne weitere Begrüßungsworte auszutauschen, fragte sie: »Ist alles in Ordnung?«

Vinja seufzte laut. Die Anspannung, mit welcher sie hierhergekommen war, fiel von ihr ab.

»Ja, ich ...«, ohne ihren Satz zu Ende zu bringen, machte sie einen Schritt nach vorn und umarmte Masia herzlich. Es war so eine Erleichterung, ein bekanntes Gesicht zu sehen, noch dazu ein Gesicht von jemandem, den sie mit ihrem früheren Zuhause in Verbindung brachte, auch wenn das genau genommen gar nicht stimmte. Masia schien über die überschwängliche Begrüßung zwar verwundert, erwiderte aber die Umarmung und trat dann einen Schritt zurück.

»Das freut mich aber, dass du mich mal besuchen kommst!«

Vinja nickte schnell. Ein schlechtes Gewissen beschlich sie, dass sie es nicht schon früher unternommen hatte, nach ihr zu suchen. Masia betrachtete sie aufmerksam und schien ihre Gedanken zu erraten. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und lächelte.

»Du bist größer geworden.« Ihr Blick wanderte von Vinjas Gesicht an ihrem Körper hinunter. »Und kräftiger.« Wieder lächelte sie. »Gut siehst du aus!«

Jetzt musste auch Vinja lächeln. Es freute sie, dass Masia aufgefallen war, dass sie sich verändert hatte.

»Du aber auch«, antwortete sie ehrlich. Ein Bild von Masia, wie sie halb vertrocknet neben Vinja herlief, kam ihr in den Sinn. Die jetzige Masia sah tatsächlich besser und auch jünger aus.

»Wer ist denn da?« Eine Stimme kam aus dem hinteren Teil des Ladens und kurz darauf tauchte eine Frau auf. Sie trug ein schwarzes Kleid mit dunkelroten Ärmelaufschlägen und über dem Kleid einen im gleichen Rot gehaltenen Umhang mit einer großen Kapuze, die ihr über den Rücken hing. Sie hatte langes, glänzend schwarzes Haar, einen auffallend langen Hals und ein scharfkantiges, schönes Gesicht mit einem ernsten Ausdruck. Auch wenn es einen erkennbaren Altersunterschied zwischen Masia und der Frau gab, erkannte Vinja doch die Ähnlichkeit in ihren Zügen. Mit eleganten Schritten kam sie auf sie zu. Masia schien zu ahnen, dass der Auftritt Eindruck auf Vinja machte und grinste.

»Das ist meine Schwester, Eleane«, sagte sie und wandte sich zu ihrer Schwester um, »und das hier ist Vinja. Du erinnerst dich, ich habe dir von ihr erzählt.«

Eleane schien einen Moment zu überlegen. Als sie schließlich nickte, hatte Vinja den Eindruck, dass ihr ernstes Gesicht sich etwas aufhellte und ein freundlicher Ausdruck trat darauf, der die Ähnlichkeit mit ihrer Schwester noch verstärkte.

»Hallo Vinja«, sagte sie und streckte ihr ihre Hand entgegen. Vinja betrachtete sie einen Moment und tatsächlich, wie sie es sich vorgestellt hatte, ähnelten ihre Finger denen Hiljos. Schnell schüttelte sie den Gedanken ab und um nicht unhöflich zu sein, ergriff sie die Hand Eleanes. Eleane lächelte.

»Was können wir für dich tun?«

Fast hätte Vinja es dabei belassen, einfach nur ihren Wunsch nach neuer Kleidung zu äußern, aber als sie begann zu erzählen, weswegen sie hier war, war es, als würde ein Damm brechen.

Zuerst berichtete sie nur kleinere Details, die ihr nötig erschienen, um verständlich zu machen, warum sie hier und nicht bei dem Schneider in ihrem Viertel einkaufte, dann holte sie weiter aus und mit einem Mal erzählte und erzählte sie und dann erzählte sie einfach alles. Zwischendurch lotste Masia sie in ein gemütliches Hinterzimmer, kochte irgendwo eine Kanne mit süßem Tee und brachte ihr ein Stück Kuchen. Eleane hörte derweil zu und Vinja war überrascht, dass sie so schnell Vertrauen zu ihr fassen konnte. Anfangs hatte sie eigentlich zu Masia gesprochen, aber je mehr sie erzählte, desto mehr wandte sie sich an Eleane, die sich alles mit freundlicher, aber ernster Miene anhörte, hier und da nickte und manchmal eine Frage stellte. Masia saß schweigend daneben, beobachtete Vinja derweil und lächelte ihr aufmunternd zu, wenn Vinja sich unsicher nach ihr umschaute.

Als sie geendet hatte, fühlte sich Vinja fürchterlich erschöpft, aber auch erleichtert. Es war auch das erste Mal gewesen, dass sie jemandem erzählt hatte, was sie im Haus der Morgells erlebt hatte. Dieser Teil war von allen der schwierigste gewesen, aber als es gesagt war, fühlte sie sich besser als zuvor.

Einen Moment trat Schweigen ein und Vinja wurde mit einem Mal verlegen, dass sie so viel Zeit in Anspruch genommen hatte. Auch fiel ihr auf, dass sie selbst gar keine Frage gestellt hatte und sie kam sich mit einem Mal unhöflich vor. Sie lächelte verlegen zu Masia und dann zu Eleane. Doch keine von beiden schien in irgendeiner Weise ungehalten zu sein, was Vinja sehr überraschte.

Stattdessen stand Eleane auf.

»So«, sagte sie, als wolle sie den Abschluss des Gesprächs noch einmal deutlich machen, »dann wollen wir uns mal damit beschäftigen, weswegen du hergeschickt wurdest!«

Sie winkte Vinja zu und begann ihr einige Stoffe zu zeigen und mit ihr zu besprechen, was sie sich denn wünschte. Sie zeigte Vinja einige Vorschläge und Vinja entschied sich für zwei graue Stoffe, einen hellen und einen dunklen und für ein praktisches Hemd und eine Hose, so wie sie es bisher auch getragen hatte. Während sie zusammen mit Masia Maß nahm, fragte sie sich, ob Eleane ihr lieber etwas Aufwendigeres gemacht hätte, vielleicht so wie ihre eigenen Sachen, aber wenn es so war, ließ Eleane sich nichts anmerken.

Als es ans Bezahlen ging, holte Vinja das Säckchen mit Münzen hervor, das ihr viel zu leicht vorkam und hielt es Eleane und Masia hin. »Meine ...«, begann sie, »Ich .... Wenn es zu wenig ist, dann ...«

Masia nahm das Säckchen und legte es ungezählt auf die Theke.

»Es ist mehr als genug, Vinja.«

Auch Eleane nickte.

»Ich denke, du kannst deine Sachen morgen abholen«, sagte sie freundlich. Dann fuhr sie in einem ernsteren Ton fort und auch wenn sie sich Mühe gab, weiterhin freundlich zu bleiben, hörte Vinja den Ärger aus ihrer Stimme heraus. »Wenn deine Eltern sich entscheiden sollten, Stoffe bei mir zu kaufen, dann sag ihnen«, sie machte eine kurze Pause, als müsse sie sich zusammen nehmen, »sag ihnen, dass sie das nächste Mal selbst vorbeikommen müssen und dass sie sich glücklich schätzen können ...«, sie unterbrach sich. Ihre Stimme hatte einen wütenden Tonfall angenommen, dann schüttelte sie den Kopf und als sie fortfuhr, klang ihre Stimme wieder freundlicher, »sag ihnen einfach, sie können gerne bei mir einkaufen, wenn sie etwas brauchen.« Sie überlegte kurz. »Und du kannst natürlich auch jederzeit vorbeikommen, auch wenn du nichts einkaufen musst.«

Masia nickte bekräftigend mit dem Kopf.

»Ich würde mich sehr freuen, Vinja. Und wenn deine Eltern dich nicht lassen, dann wird uns schon was einfallen, weswegen du herkommen musst.«

Sie zwinkerte ihr aufmunternd zu. Vinja bedankte sich und der Abschied war der schwerste Abschied seit langem.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichحيث تعيش القصص. اكتشف الآن