III - Jorian (3/3)

1 0 0
                                    

Den nächsten Tag verbrachte er in seinem Zimmer. Seine Mutter sah noch einmal kurz bei ihm vorbei, bevor sie das Haus verließ und schien erleichtert zu sein, ihn hier zu finden und nicht wie sonst an seinem Arbeitsplatz. Jorian hatte ihr gesagt, er wolle sich tatsächlich mal einen Tag ausruhen, was er aber in Wirklichkeit ganz und gar nicht vorhatte. Kaum war seine Mutter aus dem Haus gewesen, holte er seine Unterlagen hervor und machte sich daran, den überraschenden Erfolg vom vergangenen Abend fortzuführen. Er arbeitete hart, strengte sich an, konzentrierte sich. Stunde um Stunde verging, doch er hörte nicht auf.

Der Nachmittag war schon weit vorangeschritten, als Jorian zum ersten Mal eine wirkliche Pause einlegte. Als er sich umschaute, war er froh, dass es noch eine Weile dauern würde, bis seine Mutter wieder da war. Sein Zimmer sah aus, als ob ein Sturm hindurchgeweht wäre. Bücher waren aus dem Regal gerissen und über dem Boden verteilt, der Stuhl war umgestürzt, der kleine Schreibtisch in Unordnung. Seine Bettdecke lag auf dem Boden und sein Haar war zerzaust. Er fühlte sich völlig erschöpft und ausgelaugt.

Jorian trat an seinen Schreibtisch, richtete den kleinen Spiegel auf, der dort lag und betrachtete sich darin. Er war blass und seine Augen waren gerötet. Sein Gesicht wirkte verkrampft und seine Lippen waren zu einem angespannten Grinsen verzogen. Wenn ihn so jemand sah, würde man vermutlich denken, er sei verrückt geworden. Der Eindruck wurde durch das Chaos in seinem Zimmer nur verstärkt und nicht zuletzt das Messer, welches auf dem Boden neben dem Bett lag und an dem sich noch Spuren von Blut befanden, hätte auch den letzten Zweifler überzeugt, dass Jorian den Verstand verloren hatte.

Doch dem war nicht so. Jorian war zwar müde und er fühlte sich seltsam, aber sein Verstand hatte ihn nicht im Stich gelassen.

Wenn man einmal wusste, was man zu tun hatte und wenn man es schaffte, die Panik zu unterdrücken, die es auslöste, wenn die Sinne verzerrte Eindrücke und Bilder lieferten, dann war es viel einfacher, als er es sich vorgestellt hatte. Schon bei seinem ersten Versuch, den er unternommen hatte, kaum dass seine Mutter fort war, hatte er den eigentümlichen Zustand vom vorigen Abend wieder erreichen können. Er hatte einige Anläufe gebraucht, um nicht die Kontrolle über sich zu verlieren, wenn er sich in ihm befand. Jorian war in seinem Zimmer herumgestolpert, hatte verzweifelt versucht, sich festzuhalten, auch an Stellen, wo es nicht ging und einiges heruntergerissen oder umgestoßen. Er hatte sich davon nicht beirren lassen und verbissen weiter gemacht. Zuletzt war es ihm gelungen, die Kontrolle über sich zu behalten, wenn um ihn herum die Welt hinter dunklem Nebel zurücktrat. Jorian hatte sich umschauen und dann sogar bewegen können, ohne dass seine Beine nachgaben. Für ihn war es, wie in eine völlig andere Welt zu blicken. Alles um ihn herum wirkte zwar vertraut, aber gleichzeitig fremdartig und geheimnisvoll. Er hatte entdeckt, dass nicht nur er ein matt-weißes Leuchten abstrahlte, sondern auch andere Dinge um ihn herum. Im Garten sah er ein silbriges Schimmern, das von den Bäumen ausging und auch wenn er nicht weit sehen konnte, so meinte er, in der Nähe der Mauer auch ein Leuchten zu sehen, das von Helma ausgehen musste.

Es war das Lebendige, das leuchtete, wenn er sich in den ansonsten so düsteren Zustand versetzte. Das Dunkle aber war das Tote, das Sterbende.

In seiner Übersetzung hatte er gelesen, dass das Dunkle in einen herein sickern konnte, wenn man sich verletzte und dass es möglich war, diesen Effekt zu verhindern oder sogar rückgängig zu machen.

Die Vorstellung, der dunkle Nebel könne in ihn hereinströmen, hatte etwas so Bedrohliches an sich, dass es Jorian viel Überwindung gekostet hatte, mit dem nächsten Schritt weiterzumachen. Er hatte sich ein Messer aus der Küche geholt, sich erneut in sein Zimmer zurückgezogen und sich dann einen Schnitt in die Oberseite seines Armes zugefügt. Nicht tief, nur so tief gerade, dass es ein wenig geblutet hatte. Dann war er erneut in die Welt des Nebels gewechselt. Und tatsächlich, dort, wo er sich geschnitten hatte, sah er zwar kein Blut, dafür fand sich dort aber ein dunkler, fast schwarzer, nebelhafter Strich, der sich deutlich sichtbar über seinen Arm zog.

Es hatte einige weitere Stunden gedauert, bis er schaffte, was den letzten Teil der Anleitung ausmachte. Er hatte es geschafft, den schwarzen Strich zurückzudrängen. Es kostete ihn viel Konzentration und er schaffte es nicht vollständig, aber als er zurück in der gewohnten Welt seinen Arm betrachtete, war das Blut verschwunden. An seiner Stelle befand sich nun ein länglicher, weißer Strich, der aussah wie eine dünne Narbe.

An diesem Punkt hatte Jorian seine Übungen abgebrochen. Nicht nur, dass er sich nach diesem letzten Versuch kaum noch auf den Beinen halten konnte. Es war mehr, als er erwartet hatte und selbst wenn er sich noch nicht völlig verausgabt hätte, so war es mehr, als er fassen konnte.

Es schien alles so einfach! Sein Herz klopfte bei dem Gedanken daran, was man mit einer solchen Fähigkeit alles erreichen konnte.

Gleichzeitig war es ihm völlig unverständlich, wieso die Maegri, wenn sie die gleichen Fähigkeiten besaßen, diese nicht benutzten, oder wieso so etwas überhaupt verboten war.

Doch es war nicht mehr zu leugnen, er hatte etwas Verbotenes getan. Fast nervös sah er sich im Zimmer um und versuchte dann am Licht, das durch das Fenster fiel, abzuschätzen, wie lange es noch dauern würde, bis seine Mutter heimkehrte. Niemand durfte erfahren, was er hier erlernt hatte, nicht einmal sie. Auch wenn er noch etwas wackelig auf den Beinen war, begann er aufzuräumen. Nachdem er sein Zimmer wieder in Ordnung gebracht hatte, brachte er das Messer zurück in die Küche. Dann ging er in den Flur und schaute in Richtung Tür, die in den Garten hinaus führte. Einen Moment stand er regungslos im Gang. Sollte er es versuchen, gleich heute noch? Erst jetzt wurde ihm schuldbewusst klar, dass er noch kein einziges Mal bei Helma im Garten gewesen war. So etwas passierte ihm sonst nie. Er ging zurück in die Küche, suchte etwas Fleisch und einige Essensreste heraus. Noch während er alles in eine Schüssel füllte, wurde er nervös. Es war zwar nicht heiß, aber ein warmer Tag gewesen. Hatte sie genug getrunken? Eine beklemmende Vorahnung beschlich ihn und als er mit Helmas Essen fertig war, musste er sich zwingen, nicht zu rennen.

Helma lag wie immer im Schatten der Gartenmauer. Als Jorian sich ihr näherte, sah er, dass eine Schale mit Wasser vor ihr stand. Anscheinend hatte seine Mutter daran gedacht, sie aufzufüllen, bevor sie ging. Gleichzeitig fiel ihm auf, dass Helma anscheinend nicht viel getrunken hatte, denn die Schale war noch fast randvoll. Als er sich neben ihr ins Gras niederließ und die Schüssel mit dem Essen abstellte, hatte er einen dicken Kloß im Hals.

»Helma?«

Sie rührte sich nicht. Meistens bemerkte sie, wenn er sich ihr näherte, aber in letzter Zeit schlief sie manchmal, wenn er kam.

»Helma?«

Sie rührte sich immer noch nicht und auch nicht, als er ihr über das weiche Fell strich. Vorsichtig schüttelte er sie, aber Helma zeigte keine Reaktion. In Jorians Ohren begann es zu rauschen. Als er seine Hand unter ihren Kopf schob, lag er schwer in seiner Hand. Der Hals war schlaff und auch als er ein weiteres Mal ihren Namen sagte, dieses Mal lauter, regte sie sich nicht. Tränen stiegen ihm in die Augen und verschleierten seinen Blick. Er ließ seine Hand auf ihrem Brustkorb ruhen, doch er fühlte weder Atem noch Herzschlag. Ein Gefühl entsetzlicher Ohnmacht überwältigte ihn. Am liebsten hätte er laut aufgeschrien. Das konnte einfach nicht wahr sein, das durfte nicht wahr sein. Den ganzen Tag war er zu Hause gewesen und hatte einen Weg gesucht, Helma zu helfen und jetzt schien alles nicht nur umsonst gewesen zu sein, sondern auch noch der Grund, warum er sie allein gelassen, sie nicht noch einmal gesehen hatte, bevor sie ...

Jorian konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Panik wechselte mit einem entsetzlichen Gefühl von Schuld und er war unfähig, klar zu denken.

Dann, obwohl völlig erschöpft und die Augen von Tränen verschleiert, setzte er sich hin, versuchte sich zu beruhigen und begann, in die Welt der dunklen Nebel zu treten. Eine irre Hoffnung ergriff ihn. Sicher hatte er sich irgendwie getäuscht und gleich würde er sehen, dass Helma noch bei ihm war. Doch innerlich wusste er, dass er sich selbst täuschte.

Um ihn herum verschwanden die Farben aus der Welt. Er sah sein eigenes matt-weißes Leuchten und das silbrige Schimmern des Grases um sich herum. Er wagte nicht den Blick zu heben, doch dann zwang er sich dazu.

Dort, wo Helma lag, war kein Leuchten. Dort war nur ein dunkler Schatten dessen, was Helma einmal gewesen war. Es war der letzte und unausweichliche Beweis für das, was er nicht wahrhaben wollte.

Helma war gestorben.


Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichOnde histórias criam vida. Descubra agora