I - Jorian (3/3)

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Die Mittagszeit war vorüber, als er das Scrivorium erreichte.

Das Scrivorium hatte zwei Eingänge. Einen vorn, der auch in den kleinen Laden führte, in welchem Tevius oder einer seiner Vertreter Gespräche mit Kunden führten. Der andere Eingang befand sich auf der Rückseite, welche man über eine schmale und unscheinbare Gasse erreichte. Jorian entschied sich für den Hintereingang. Vorsichtig klopfte er an die große und einfache Holztür. Es dauerte eine Weile, dann wurde die Tür langsam und leise geöffnet. Hinter der Tür stand Beotrum, einer von zwei Bediensteten im Scrivorium, die nicht als Schreiber arbeiteten. Er musterte Jorian mit kritischem Blick und nickte dann, um ihm zu signalisieren, dass er eintreten durfte.

Das Scrivorium war ein altes Gebäude. Es hatte dicke Mauern und lag tiefer als die Straße, sodass man eine kleine Treppe hinuntersteigen musste, um in den Arbeitsraum zu gelangen. Der Raum, in welchem die Scrivoren arbeiteten, war lang und breit. An einer der Seiten waren auf ganzer Länge Fenster angebracht, durch die ein wenig Tageslicht hereinfiel. Trotz allem war der Raum dämmrig und auf vielen Tischen, die den Raum füllten, waren kleine Öllampen entzündet. Fast alle Tische waren besetzt. Überall saßen Männer und Frauen, die eine Feder in der Hand hielten und schrieben. Hin und wieder streckte sich jemand und gab ein leises Ächzen von sich und mancher las sich flüsternd den Text vor, den er kopierte. Aus einer der hinteren Tischreihen kam ein Husten, ansonsten hörte man nichts außer dem Kratzen der Federn auf Papier.

»Tevius?«, flüsterte Jorian leise zu Beotrum.

Beotrum deutete stumm auf die gegenüberliegende Seite des Schreibraums, wo sich Tevius' persönliches Arbeitszimmer befand. Jorian nickte und machte sich auf den Weg zwischen den Tischen hindurch. Hier und da hob jemand den Kopf. Ikani, eine Scriva, die nur ein paar Jahre älter war als er selbst, lächelte ihm zu, als er vorbeiging, sonst grüßte ihn niemand.

Am anderen Ende des Raumes angekommen, öffnete er leise die Tür zu Tevius' Arbeitszimmer.

Das Arbeitszimmer war groß und geräumig. Es wurde dominiert von einem riesigen Schreibtisch, auf welchem im Kontrast zu seiner Größe nur wenige Arbeitsutensilien lagen. Ein Glas mit Tinte, eine Feder, ein Stapel Papier. Entlang der Wände standen Bücherregale, welche bis zum letzten freien Platz mit Büchern vollgestellt waren, ohne dass sie dabei voll wirkten. Jedes Buch saß genau an seinem Platz. In einer Ecke standen zwei aufwendige Sessel und ein kleiner Tisch, die den Eindruck erweckten, mehr zur Dekoration zu dienen als zum Sitzen. Tevius saß wie immer hinter seinem Schreibtisch und arbeitete. Als Jorian eintrat, hob er den Kopf.

Tevius war groß und breit, hatte ein hervorstehendes Kinn, ausgeprägte Wangenknochen und einen stechenden Blick. Er war einer der wenigen Männer, die Jorian kannte, die ihr Haar sehr kurz trugen, obwohl er nicht mal einen Ansatz zur Glatze hatte. Jorian hätte ihn sich besser als Soldaten denn als Schreiber vorstellen können.

»Jorian«, sagte Tevius zur Begrüßung, legte vorsichtig die Feder beiseite und richtete sich in seinem Sessel auf. Sein Blick wirkte geschäftsmäßig. »Was kann ich für dich tun?«

Jorian machte ein paar Schritte ins Zimmer hinein.

»Ich wollte fragen, ob du vielleicht einen Auftrag für mich hast. Ein Kunde von heute Morgen ist mir abgesprungen.«

Tevius griff in eine Schublade und zog ein Buch hervor. Er schlug es auf, blätterte vor und zurück und fuhr mit dem Finger über die Seiten. Dann hielt er inne.

»Hier habe ich tatsächlich etwas für dich«, sagte er und blickte Jorian an, »Eine Wäscherei hat in der Stadt aufgemacht und hat Werbezettel in Auftrag gegeben.«

»Werbezettel?« Jorian ahnte, worauf das hinauslief. Ein und dieselbe Seite musste abgeschrieben werden, immer und immer wieder. Tevius nickte.

»Interesse?«

Jorian zögerte noch einen Moment, dann nickte er.

»Gut!«, sagte Tevius, »Aber Jorian, es geht hier um Masse. Es sind Werbeschriften eines einfachen Wäschers. Ich weiß, wie genau du arbeiten kannst und dass das eigentlich unter deinem Niveau liegt, aber ich möchte ...«

»Dass ich schnell arbeite«, vollendete Jorian den Satz resignierend.

Tevius lächelte. »Genau. Ich möchte, dass du vor allem schnell arbeitest.«

Er machte eine Notiz in das Buch, schloss den Deckel und schob es zurück in die Schublade. Dann öffnete er eine weitere Schublade und blätterte durch einige Papiere. Eines zog er heraus und reichte es Jorian. Es enthielt einen schlichten und einfallslosen Text über die Neueröffnung der Wäscherei.

»Sprich mit Alvik über die Bezahlung. Du kannst hier arbeiten, wenn du willst.«

Mit diesen Worten war das Gespräch beendet und Tevius setzte seine Arbeit fort.

Jorian ging hinaus und überlegte, ob er sofort zu Alvik gehen sollte, um über seine Bezahlung zu verhandeln. Er mochte Alvik nicht. Alvik war ein alter dürrer Mann, der zweite Mitarbeiter von Tevius, der nicht als Schreiber arbeitete. Er war für die Zahlen des Scrivoriums zuständig und auch wenn es nicht sein Geld war, das er verwaltete, tat er doch so, als müsste er sich jede Zahlung von seinem eigenen Lohn abziehen. Jorian entschied sich, erst zu ihm zu gehen, wenn er mit seiner Arbeit fertig war. Es verhandelte sich besser, wenn man seine fertige Arbeit schon vorweisen konnte. Er blickte auf den Zettel und stöhnte leise, als er die Zahl sah, die Tevius am unteren Rand notiert hatte. Einhundert Abschriften! Instinktiv griff er nach seinem Handgelenk und begann es zu lockern. Dann ging er zu einem der großen Regale, die mit Arbeitsutensilien gefüllt waren, und suchte sich Papier und Tinte zusammen. Er nahm sich einen freien Platz und wollte gerade mit seiner Arbeit beginnen, als er an einem der oberen Fenster einen kleinen Vogel sah. Der Vogel zwitscherte kurz, es klang fröhlich und melodisch. Dann flog er davon und für den Rest des Tages hörte Jorian nichts als das Kratzen von Federn und das Rascheln von Papier.


Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWhere stories live. Discover now