VI - Jorian (6/7)

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Dort angekommen wartete das gleiche Bild auf ihn wie jeden Tag. Nush saß auf seinem Schemel, die Hände unter seinem Gesäß versteckt. Wie immer, wenn er Jorian sah, zog er sie hastig hervor und begann, nervös mit seinen Fingern zu spielen, während er ihn musterte. Wie immer war von Alachondes nichts zu sehen, aber Jorian ging davon aus, dass er wie immer in seiner Kammer saß und trank. Dies tat er, wie Jorian festgestellt hatte, den ganzen Tag. Überhaupt schien das Leben des Librors nicht aus viel anderem zu bestehen. Er hatte eine verbitterte und hämische Art und seinen angestauten Frust, dessen Grund Jorian nicht kannte, ließ er regelmäßig an Nush aus. Selbst wenn Jorian sich in den Gängen der Bibliothek befand, hörte er manchmal die Stimme des Librors, wie er Nush für irgendetwas anfuhr.

Jorian grüßte Nush, indem er ihm zuwinkte und ging dann direkt zum Eingang der Bibliothek. Dort holte er seine Karte hervor und begann, seine bisherige Arbeit zu überprüfen.

Das Ergebnis war zufriedenstellend. An einigen Stellen waren die Abstände nicht ganz richtig gewesen. Er hatte mit der Schnur neu abmessen müssen und die Korrekturen so gut es ging auf der Karte verzeichnet. Die doppelten Linien ärgerten ihn. Er würde die Karte am Abend neu machen müssen und diese hier dann zukünftig nur noch für die Vorarbeit nutzen.

Bei seinem jetzigen Stand waren auf der Karte fünf Wege offen. Ein sehr langer Quergang im nördlichen Teil der Bibliothek, welcher rechts vom Eingang lag, endete in einer schneckenförmigen Sackgasse und war sehr dunkel gewesen. Im südlichen Teil befand sich ein ebenfalls recht langer Längsgang, der am Ende einen Rechtsknick machte. Jorian hatte beschlossen, diesen Gang weiterzuverfolgen und somit in den hinteren Teil der Bibliothek vorzudringen. Der südliche Teil der Bibliothek war etwas heller als der nördliche. Als Jorian ihn erreichte, fiel über die Bücherregale das graue Licht des wolkenverhangenen Tages.

Während er den Gang entlang ging, wanderte sein Blick über die Buchrücken. Insgeheim hoffte er, dass er das gesuchte Buch zufällig entdecken würde. Doch viele Einbände trugen keine Aufschrift. Überhaupt hatte man, soviel hatte Jorian herausgefunden, damit erst recht spät begonnen. Die älteren Bücher trugen den Titel fast ausnahmslos auf dem Buchdeckel und manche nicht einmal dort. Er erklärte es sich damit, dass sich die Menschen früher vielleicht nicht hatten vorstellen können, wie viele Bücher es einmal geben würde und dass sie in einer großen Bibliothek wie dieser zusammengestellt würden. Wenn man nur wenige Bücher besaß, war es gar nicht notwendig, die Buchrücken zu beschriften, da man ja eh wusste, welche Bücher man hatte. Die heutigen Buchbinder wussten, welch große Bibliotheken es gab und wie umständlich es war, jedes einzelne Buch aus dem Regal zu ziehen, um das richtige zu finden.

Jorian blieb stehen. Es machte ihn wahnsinnig, dass fast jedes dieser Bücher jenes sein konnte, wegen dem er hier durch die Bibliotheksgänge irrte. Aufs Geratewohl griff er ein Buch aus dem Regal und warf einen Blick auf den Titel. ›Die Reisen auf der Takjutta‹ von einer gewissen Noelvine. Er seufzte enttäuscht und schob das Buch zurück ins Regal. Ihm kam der Gedanke, dass es vielleicht das Buch daneben wäre und es kostete ihn einiges an Überwindung, nicht nachzuschauen. Einen Moment sah er sich, wie er irrsinnig begann, ein Buch nach dem anderen aus den Regalen zu reißen und sie einfach auf den Boden des Ganges zu schmeißen. Er schüttelte den Kopf und wie um sich selbst von diesem Gedanken abzubringen, machte er einen Schritt vom Buchregal weg und wandte sich wieder seiner Karte zu.

Am Ende des Ganges folgte er dem Knick nach rechts und dann einige Schritte später nach links, dann wieder links. Der Weg teilte sich auf. Ein neuer Gang endete kurz später sichtbar in einer Sackgasse, der andere verlief Richtung Süden und lief auf die Außenmauer zu, wo sich ein großes Fenster befand.

Jorian ging zurück, nahm seine Schnur, maß die Weglängen ab und zeichnete sie mit seinem Lineal auf der Karte ein. Dann folgte er dem Weg bis zur Außenmauer.

Der Gang verlief bis zum Ende der Bibliothek in einer Art Galerie. Rechts befanden sich die Regale mit den Büchern, links die Außenwand, wo sich in regelmäßigen Abständen große Fenster befanden.

Zwischen den Fenstern entdeckte Jorian eine Reihe von Bildern. Jorian wusste nicht wieso, aber sie weckten sein Interesse, und so nahm er sich die Zeit, sie zu betrachten. Dem Anschein nach waren sie alle vom selben Künstler gemalt worden. Sie zeigten gewöhnliche Szenen aus dem Alltag. Eine Mutter beugte sich über die Wiege, in welcher ein weinendes Baby lag. Ein Mann saß auf einer Bank in einem Garten. Zwei Frauen schlenderten im Sonnenuntergang einen Weg entlang. Auf den ersten Blick erinnerten Jorian die Bilder an jene, wie sie derzeit auf den Märkten von Ijaria zu Hunderten verkauft wurden. Bedeutungslose Szenen, Menschen in ihrem Alltag, Bilder, bei denen sich Jorian schon immer gewundert hatte, wieso sie gemalt und noch mehr, warum sie gekauft wurden.

Dann aber entdeckte er, dass sich auf den Bildern jeweils eine weitere Figur befand. Sie war auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen gewesen, aber sie war da. Hinter der Mutter, im Gesträuch hinter der Bank und am Wegesrand neben einem Baum stand im Schatten eine dunkle Gestalt. Groß, hager, bleich, mit kaltem Blick auf die Figuren im Bild gerichtet. Die Hände hatten lange Finger und wirkten fast wie Klauen.

Mit einem Mal bekamen die Bilder etwas Schauriges. Die Gestalt, die sich am Rand des Geschehens aufhielt, hatte trotz ihrer menschlichen Gestalt zugleich etwas Unmenschliches an sich. Sie beobachtete die anderen Personen nur, ohne sich auf sie zuzubewegen. Doch allein schon diese stumme Beobachtung verursachte den Eindruck von Gefahr. Schrie das Baby vielleicht, weil die seltsame Gestalt anwesend war? Auch die Mutter wirkte mehr als besorgt. Der Mann auf der Bank hatte ein bekümmertes Gesicht, eine der Frauen sah sich ängstlich um, ohne die Figur im Schatten zu entdecken.

Jorian machte einen Schritt von den Bildern fort und der Effekt des Bedrohlichen verschwand, kaum, dass man die Figur im Schatten nicht mehr sehen konnte. Erneut waren es nur Alltagsszenerien ohne besondere Bedeutung.

Jorian war beeindruckt. Einen solchen Effekt hatte er bei einem Bild noch nicht gesehen. Das Böse lauert hinter dem Schein, ging es ihm durch den Kopf, womit gleichsam der Schein etwas Böses bekommt. Er dachte an die Lüge gegenüber seiner Mutter, dass er hier dem Libror zur Hand gehen würde. Dahinter verbarg sich die Drohung des Maegros, ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Und was tat er hier? War seine Suche nach dem Buch, welche er zum Schein als Hilfe für den Libror tarnte, vielleicht selbst etwas Böses? Jorian wusste, dass die Maegri zum engsten Kreis des Königs gehörten und es erschien ihm unsinnig, davon auszugehen, dass er sich an etwas Schlechtem beteiligte, aber die Ahnung, dass Maegro Kallvas irgendetwas Schlechtes im Schilde führte, ließ ihn nicht los.

Instinktiv sah er sich um, ganz so, als ob auch hier jemand im Schatten stünde und ihn beobachtete. Doch niemand war da. Obwohl Jorian es eigentlich angenehm war, endlich mal in einem jener Gänge der Bibliothek zu arbeiten, in welchen direkt Tageslicht fiel, lief ihm mit einem Mal ein Schauer über den Rücken. Trotzdem zwang er sich, die Länge des Ganges mit der Schnur abzumessen, die er einige Male aneinanderlegen musste, um sie in die Karte einzutragen. Nach kurzem Zögern notierte er ›Bildergang‹ zwischen die Linien, um sich später besser orientieren zu können. Dann folgte er dem Weg um die Ecke, ließ den Gang hinter sich zurück und versuchte, ihn aus seinen Gedanken zu verdrängen.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWhere stories live. Discover now