IV - Jorian (3/4)

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Es war ein grauer Tag. Wolken bedeckten den Himmel und das triste Wetter schien sich auch auf das Gemüt der Bewohner Ijarias niederzuschlagen. Noch war kaum jemand auf der Straße, aber die wenigen Passanten, die Jorian entgegenkamen, machten lange Gesichter. Jorian machte das nichts aus, im Gegenteil. Mit seiner eigenen trübsinnigen Stimmung hätte es ihn eher gestört, fröhliche und gutgelaunte Menschen zu treffen.

Mehr als sonst vermied er es, mit anderen in Kontakt zu treten. Er lief am Rand und hielt den Blick gesenkt. Jorian fühlte sich ohnehin nicht wohl im Viertel, aber seit er den Fehler begangen hatte, sich etwas von der Magie anzueignen, die in ›Deho Magyr‹ beschrieben war, fühlte er sich beobachteter denn je. Es schien ihm, als habe er einen Makel an sich, den er nicht verbergen konnte. Der Umstand, dem Maegro erneut unter die Augen zu treten, ängstigte ihn weitaus mehr als die Tatsache, dass er eine mäßige Arbeit ablieferte.

Konnte der Maegro spüren, dass er Magie erlernt hatte? Wenn er es konnte, was würde dann mit ihm geschehen?

Seine Umgebung kam ihm plötzlich ungewohnt vor und er bemerkte, dass er gelaufen war, ohne darauf zu achten, wohin. Er hob den Blick und erkannte, dass er zum Platz der Sonne gelaufen war. Von hier aus erhoben sich die vielen hundert Stufen hinauf zum Palast des Königs.

Auch wenn der Platz der Sonne tagsüber einen beliebten Treffpunkt abgab, so war er doch zu früher Stunde fast leer. Eine einzige Frau saß breitbeinig auf einer der Steinbänke. Als Jorian den Platz betrat, wandte sie sich nach ihm um und musterte ihn einen kurzen Moment. Dann nickte sie ihm freundlich zu und Jorian nickte zurück. Sie wandte sich wieder ab und blickte in Richtung der Südstraße, ganz so, als wartete sie auf jemanden.

Jorian beachtete sie nicht weiter und sah wieder zur Treppe.

Die Stufen waren allesamt zu groß und wirkten unförmig. Jorian war einige von ihnen einmal hinaufgeklettert, hatte aber schon bald aufgegeben. Es machte keinen Spaß, hinaufzugehen und es war anstrengend, auch wenn man oben mit einer wunderbaren Aussicht belohnt werden würde. Als er klein war, hatte er mit seiner Mutter manchmal auf den Stufen gesessen. Sie hatte ihm erzählt, einzig der König könne die Stufen ohne Probleme hinauf- oder herabschreiten. Er ließ den Blick die Treppe hinauf zur Herzfeste wandern, dem prächtigen Palast des Königs. Auch wenn Jorian schon sein ganzes Leben in Ijaria verbracht hatte, so wusste er doch wenig über den König. Es hieß, dass auch er über mächtige Magie verfügte, mit welcher er die Außengrenzen des Reiches gegen Feinde abschirmte. Jorian kannte die Geschichten, seit er klein war. Früher hatte er sie gerne gehört. Es war eine gute Vorstellung, dass es jemanden gab, der nichts anderes tat, als sich um den Schutz der freien Menschen zu kümmern. Mittlerweile war sich Jorian nicht mehr ganz so sicher, was Wahrheit und was Dichtung war. Außer den Geschichten war wenig bekannt über Agreon Rasgalian, Sohn des ersten großen Königs Grimbardt Rasgalian. Gesehen hatte Jorian ihn noch nie und er kannte auch niemanden, der ihn überhaupt einmal gesehen hatte. Es hieß, er verweilte in seinen Gemächern im Palast, umgeben von seinen mächtigsten Maegri und seinem geheimnisvollen Sprecher, der den Austausch mit der Außenwelt für ihn übernahm.

Es war der König gewesen, der vor vielen Jahren mit einem Erlass alle Magieausübung verboten hatte, er selbst und die Maegri natürlich ausgenommen. Das alles war noch lange vor Jorians Geburt gewesen und er hatte davon nur in einer Chronik gelesen, die sie zu Hause im Bücherregal hatten. Der magische Teil der königlichen Akademie war gegen den Widerstand der Großzauberer geschlossen worden. Der Chronik war nicht zu entnehmen gewesen, was genau geschehen war, aber anscheinend hatte es eine Art Kampf gegeben, den die Großzauberer verloren hatten. Jorian war einmal am alten Turm gewesen, in welchem die magischen Studien der Akademie stattgefunden hatten. Er befand sich in einem halbverwaisten Teil des südwestlichen Viertels. Der Turm war immer noch intakt, doch das schöne Portal war mit schweren Eisenbeschlägen versiegelt worden, und zwei Wachen hatten davor gestanden. Sie hatten ihn misstrauisch beäugt und auch wenn Jorian sich gerne noch ein wenig mehr umgesehen hätte, hatte er es unter ihren strengen Blicken nicht ausgehalten.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWhere stories live. Discover now