II - Vinja (1/2)

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»Vinja!«
Die Stimme ihrer Mutter, schrill und streng, riss Vinja aus ihren Gedanken. Erschrocken zuckte sie so heftig zusammen, dass die Kiste, die sie eben erst aufgehoben hatte, ihr aus den Händen fiel. Der Inhalt verteilte sich scheppernd auf dem Boden. Ein Glas ging zu Bruch und Becher und Schalen rollten klappernd durch den Raum.

»Verdammt noch mal!«, rief Rigund wütend.

»Entschuldigung!«

Schnell bückte Vinja sich und begann mit zittrigen Fingern die Gegenstände wieder einzusammeln.

»Lieber Himmel!«

Rigund trat neben Vinja, nahm ihr die Kiste weg und begann nun selbst, die Sachen einzusammeln. »Das kann ich nicht mit ansehen!«, schimpfte sie, »Schlimm genug, dass beim Herausfallen etwas kaputtgegangen ist, aber so grob wie du den Rest einräumst, wird gleich wieder etwas zu Bruch gehen.«

Vinja erhob sich. Scham und Ärger stiegen in ihr auf. Scham, dass sie wieder einmal etwas kaputt gemacht hatte und Ärger, weil sie fand, dass ihre Mutter es schlimmer darstellte, als es war. Letztlich überwog das Gefühl etwas falsch gemacht zu haben.

»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich noch einmal, doch der strafende Blick ihrer Mutter verschlimmerte Vinjas Schuldgefühl eher noch, als dass es sich besserte.

»Hol einen Besen und mach die Scherben weg!«

Vinja lief in den hinteren Teil des Raumes, wo sich ein Stapel weiterer Kisten befand. Nach kurzem Suchen hatte sie auch einen Besen erspäht. Er steckte zwischen einigen Gerätschaften und Koffern. Nervös wollte Vinja ihn herausziehen, doch schon beim ersten Ruck geriet der Stapel gefährlich ins Wanken.

Ruhig, ermahnte sie sich, langsam.

Sie drückte mit der rechten Hand gegen den Teil des Stapels, der besonders wackelig zu sein schien und zog mit der linken am Besen. Holz kratzte über Glas und Leder und Vinja fürchtete, noch mehr würde zu Bruch gehen, aber zum Glück blieb alles heil. Erleichtert nahm sie den Besen in die Hand, ging zurück, öffnete die Tür, die nach draußen führte und begann, die Scherben hinauszufegen.

Von draußen drang Straßenlärm herein, ein fernes Gewirr von Stimmen, das Trampeln und Stampfen von Füßen und irgendwo das Wiehern eines Pferdes.

»Na, das gibt ja ein schönes Bild ab«, schimpfte ihre Mutter, »Aus unserem neuen Laden fegen wir den Müll auf die Straße und falls jemand hereinschauen sollte, sieht er, wie ich Gerümpel vom Boden aufsammle!«

Wütend stand sie auf und brachte die Kiste hinüber zur großen Theke, die quer durch den hinteren Teil des Raumes ging. Dort stellte sie die Kiste so grob auf den Tresen, dass es erneut laut schepperte. Vinja warf ihr einen finsteren Blick zu.

Bei dir könnten die Sachen auch kaputtgehen, dachte sie.

»Habe ich nicht gerade gesagt, du sollst die Tür schließen?«, fragte ihre Mutter gereizt, als sie sah, dass Vinja immer noch Dreck nach draußen beförderte.

Hast du nicht, dachte Vinja.

Sie betrachtete den Streifen Sonnenlicht, der in den Raum fiel und den aufgewirbelten Staub, der in ihm herum waberte.

Dann schloss sie seufzend die Tür und ließ den Blick durch den Raum wandern, der nun wieder im Dämmerlicht lag. Das hier würde also ihre neue Wäscherei werden, oder zumindest der Bereich, den die Kunden zu Gesicht bekommen würden. Die eigentliche Wäscherei würde im hinteren Teil liegen. Dorthin räumte sie gerade die Gerätschaften, die zum Waschen benötigt wurden, oder aber zur Herstellung von Seife. »Aber nicht irgendeine Seife, eine besondere Seife! Einzigartig vom Wald bis zur See«, hörte sie die Stimme ihres Vaters im Kopf. Einen Spruch, den er sich schon in ihrer Heimatstadt Halwar ausgedacht hatte und der Vinja gehörig auf die Nerven ging. Er brachte ihn immer, wenn er bemüht war, einen neuen Kunden zu gewinnen. Darin war er sehr erfolgreich, vor allem bei den Wohlhabenden und Reichen, die immer auf der Suche nach etwas Besonderem waren.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt