II - Elno (1/5)

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Ein sanfter Abendhauch fuhr durch die Bäume am Rand des Waldes und ließ die Blätter leise rascheln. Fast klang es wie ein Flüstern. Elno fröstelte. Bedrohlich ragten die Bäume in die Höhe und streckten ihre langen Äste nach ihm aus.

Elno fürchtete den Wald. Trotzdem hatten ihn seine Schritte unmerklich hierhergeführt. Vielleicht war das sogar gut so, dachte Elno, denn hier würde man ihn vielleicht nicht so schnell suchen.

Elno war gelaufen und zum Schluss seiner Erschöpfung zum Trotz sogar gerannt. Aber auch wenn er seine möglichen Verfolger damit hatte abschütteln können, die Gedanken an Nela und ihre alte Hütte wurde er nicht los. Schuldgefühle hatten ihn gepackt und ihr Griff wurde fester, je weiter er ihre Hütte hinter sich ließ.

Gleichzeitig war ein anderer Gedanke in ihm stark geworden, der sich gegen alle Sorgen und Befürchtungen stemmte, die ihn zur Hütte locken wollten.

Ich kehre nie wieder dorthin zurück.

Dieser eine Satz war es, der ihm die Kraft gegeben hatte, gegen alle Erschöpfung weiterzulaufen. Und nun war er hier.

Der Wald musste unendlich groß sein. Elno blickte die Baumgrenze hinauf und hinab, aber in keiner Richtung konnte er ein Ende ausmachen. Die Bäume waren alt und knotig und zwischen ihnen wuchsen verschiedene Pflanzen, die zum Teil größer waren als Elno selbst. Sie hatten spitze, weit herabhängende Blätter. Wenn er nur ein paar Schritte in den Wald wagte, so würden sie ihn verschlucken und er wäre nicht mehr zu sehen. Trotzdem zögerte er. Selbst bei Tag traute er sich kaum einen Schritt in den Wald hinein und nun war es fast dunkel. Er blickte zum Himmel hinauf und sah die ersten Sterne hervorkommen. Wind frischte auf. Elno lauschte. Hatte sich dort im Wald etwas bewegt? Angestrengt starrte er in das grüne Dunkel, doch er sah nichts außer Ästen und Blättern, die sich im warmen Wind des Abends wiegten. Schließlich fasste sich Elno ein Herz und machte einen Schritt hinein in den Wald.

Ihm war, als ob er eine andere Welt betreten hätte. Die Luft fühlte sich anders an und auch die Geräusche der raschelnden Blätter und Äste klangen verändert. Zögernd schob Elno eine der großen Blätterpflanzen beiseite und machte einen weiteren Schritt in den Wald hinein. Die Blätter der Pflanze waren kalt und glatt. Als Elno durch sie hindurchgetreten war, schwangen sie träge wieder an ihren alten Platz zurück. Nach ein paar weiteren Schritten warf er einen Blick über die Schulter. Schon jetzt versperrte ihm ein Dickicht aus Pflanzenblättern die Sicht aus dem Wald hinaus. Ihm wurde klar, dass man hier schnell die Orientierung verlieren konnte. Um einen Weg zurück zu markieren, knickte er einige Blätter ab. Er würde ohnehin nicht mehr viel weiterkommen, denn schon jetzt sah er kaum noch etwas. Vorsichtig machte er noch ein paar Schritte vorwärts, bis er nach wenigen Metern einen dicken und großen Baum erreichte. Sein Stamm war fast grau und seine Rinde alt.

An seinen Wurzeln am Boden befand sich eine kleine Mulde. Nachdem Elno sie flüchtig inspiziert hatte, entschied er, dass dies sein Schlafplatz für die Nacht werden sollte. Etwas Besseres finde ich nicht mehr, dachte er, kletterte in die Mulde und rollte sich dort zusammen.

Trotz aller Erschöpfung wagte er es zuerst nicht, die Augen zu schließen. Er lauschte auf jedes Geräusch, aber dann begann das Rauschen der Blätter und das leise Knacken der Äste ihn schläfrig zu machen. Ohne es zu wollen, dämmerte er langsam weg.

Kurz bevor er eingeschlafen war, zuckte er noch einmal zusammen. Hatte ein Fußtritt einen Ast zertreten? Vorsichtig schob er seinen Kopf über eine Wurzel am Rande der Mulde, doch er sah und hörte nichts. Er verharrte noch eine Weile und starrte still und reglos in die Dunkelheit. Nichts geschah. Niemand kam, um ihn zu fangen oder ihm wehzutun. Er ließ sich wieder zurückfallen und kurze Zeit später begannen sich die Geräusche des Waldes mit seinen Traumbildern zu vermischen.

Auch im Traum befand er sich im Wald. Er war klein wie ein Käfer und alles um ihn herum erschien ihm riesengroß.

»Es ist ein Junge«, hörte er eine Stimme sagen.

»Lass ihn«, antwortete jemand.

Elno fühlte sich merkwürdig. Schlief er schon oder war er noch wach? Wer hatte gesprochen? Ein Vogel schrie, es war ein langer, hoher Ton. Dann raschelte es wieder in den Ästen. Das Rascheln verwandelte sich in das Plätschern eines Baches, der lustig dahinsprang und ihn mit sich zog, immer weiter und weit, weit fort.

Als er am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich erholt und ausgeruht. Zwischen den Blättern schien die Sonne hindurch. Verwundert setzte er sich auf und streckte sich. Normalerweise schlief er nicht so lange. Nachdem er sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, dauerte es eine Weile, bis ihm klar wurde, wo er sich befand. Dann kletterte er aus der Mulde und schaute sich um. Bei Tageslicht wirkte der Wald weniger dicht und viel freundlicher, als er es in der vergangenen Nacht getan hatte. Er folgte den abgeknickten Blättern vom Vorabend und kam zum Waldrand zurück. Vorsichtig spähte er aus dem Wald hinaus. Nichts war zu sehen außer ein paar Vögeln, die über den Himmel zogen, und einigen Kaninchen, die über die Wiese liefen.

Elno hatte Durst und Hunger, doch wagte er es nicht, den Wald zu verlassen. Er beschloss, an dessen Grenze weiterzulaufen, denn in dieser Richtung kannte er einen Bach, aus dem er etwas trinken konnte.

Er kam nur langsam voran. Die Pflanzen am Waldrand waren dicht und auch wenn sie sich beiseiteschieben ließen, war es anstrengend, durch sie hindurchzulaufen. Als er den Bach schließlich erreichte, war er erschöpft und schweißgebadet. Der Bach floss langsam und hatte tiefe Stellen. Sein Wasser war dunkel und als Elno es trank, hatte es einen erdigen Geschmack. Nachdem er seinen Durst gestillt hatte, wusch er sich die Beine und die Arme. Dann überlegte er, wie es weitergehen sollte. Erneut beschlich ihn der Gedanke, dass es vielleicht besser war, umzukehren, aber er verscheuchte ihn und zu seiner Überraschung fiel es ihm leichter als noch am Abend zuvor.

Soweit er sich erinnern konnte, war er noch nie weiter von seiner Hütte weg gewesen als jetzt. Den Bach kannte er, aber er hatte ihn nur selten aufgesucht und überquert hatte er ihn noch nie. Über die Gegend jenseits des Baches wusste er fast nichts. In weiter Ferne konnte er die Umrisse von Bergen sehen, die sich als graue Schemen am Horizont abzeichneten. Er erinnerte sich daran, dass Bolg erzählt hatte, in dieser Richtung gäbe es eine Stadt. Elno war noch nie in einer Stadt gewesen, aber Ana hatte gesagt, dass dort viele Menschen lebten und dass es dort gefährlich war. Dorthin wollte er nicht gehen, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Wie er es auch drehte und wendete, weiter musste er. Elno holte tief Luft und machte einen Schritt in das eisige Wasser des Baches. Vorsichtig tastete er mit den Füßen über die glitschigen Steine im Flussbett. Auf der anderen Seite angekommen, ließ er sich erschöpft ins Ufergras sinken. Noch einmal blickte er zurück über den Bach, dann stand er auf und setzte seinen Weg fort.

Er lief den ganzen Tag und als der Abend kam, suchte er sich erneut einen Schlafplatz im Schutz des Waldrandes. Nelas Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf und während um ihn der Wald zu seinem Nachtleben erwachte, weinte er sich in den Schlaf.

Am nächsten Morgen tat sein Bauch weh vor Hunger. Fast wäre er einfach liegen geblieben, wo er war, aber er zwang sich, aufzustehen. Er musste dringend etwas essen und als er am Waldrand nichts fand außer bitteren Wurzeln, trieb ihn der Hunger fort aus dem Wald, der bald wie eine Wand hinter ihm lag, während er sich wieder durch weite Wiesen bewegte.

Es dauerte nicht lange, da traf er auf einen breiten, ausgetretenen Weg. Elno folgte ihm ein Stück, bis er an eine Stelle kam, wo ein zweiter Weg den ersten kreuzte. An dieser Stelle steckte ein Wegweiser im Boden, groß und mit Schildern in jede Richtung, doch Elno konnte nicht lesen. Als er noch unschlüssig auf der Kreuzung stand, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich.


Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWhere stories live. Discover now