II - Vinja (2/2)

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Je weiter sie sich in Richtung der großen Hauptstraße bewegte, der sie fast bis zum Zentrum Ijarias würde folgen müssen, desto belebter wurde es. Belfonso hatte ihr auf der Karte kleine Markierungen gemacht, damit sie den Weg finden würde, doch der Weg war auch so nicht schwierig. Das Viertel, in welchem sie ihren Laden hatten, hieß Lichterviertel. In der ersten Nacht, die sie in ihrem neuen Zuhause geschlafen hatte, hatte sie gesehen, dass an den Straßenecken große Laternen angezündet wurden und sie vermutete, dass das Viertel hierher seinen Namen hatte. Ihre Straße war nach den vielen Handwerkern, die sie bewohnten benannt und hieß Handwerkergasse. Falls sie sich verlief, würde sie sicher danach fragen können.

Ich werde die Karte nur im Notfall benutzen, dachte Vinja und verstaute sie sicher in einer Manteltasche. Wenn sie mit einem Stadtplan in der Hand herumlief, würde jeder sofort erkennen, dass sie nicht von hier war und das wollte sie nicht.

Der Weg zur großen Hauptstraße war weiter, als sie gedacht hatte. Einen Moment war sie sich unsicher, ob sie sich vielleicht schon verlaufen hatte, doch nach einer Weile erreichte sie die große Straße, die vom Tor in der Stadtmauer bis in Ijarias Zentrum verlief.

Es fiel Vinja gar nicht leicht, auf dieser Straße voranzukommen. Immer wieder rempelte sie jemand an und manches Mal erntete sie einen bösen Blick dafür. Erst mit der Zeit gewöhnte sie sich an das Treiben.

Viele Menschen um sie herum schienen ein bestimmtes Ziel zu haben, andere schlenderten am Rand entlang und betrachteten die Läden. Und auch für Vinja gab es hier viel zu entdecken. Neben Ladengeschäften und Ständen, an denen allerlei Waren angepriesen wurden, sah Vinja auch einige Bettler, die mit Bechern nach ein paar Münzen fragten. Hie und da standen kleinere Gruppen von Soldaten und manchmal sah Vinja sie auch über die Straße patrouillieren. Sie musterten alle Passanten mit kritischen Blicken und als einer der Soldaten seine Augen auf Vinja richtete, fühlte sie sich seltsam ertappt. Schnell schaute sie fort und war froh, als sie an den Soldaten vorbei war, ohne angesprochen zu werden.

Sie passierte eine alte Frau, die aus einer Tonne Äpfel verkaufte. Vinja dachte an die alte Masia und fragte sich, ob sie wohl ihre Schwester gefunden hatte.

Ich hätte sie fragen sollen, wie ihre Schwester heißt, dann hätte ich nach ihr suchen können, dachte Vinja.

Sie blieb an der Apfeltonne stehen, holte das Säckchen mit den Münzen hervor und bezahlte der alten Frau einen Kupferschilling. Danach verbarg sie den Beutel schnell wieder und schaute sich nervös um, bevor sie anfing, den Apfel zu essen. Er war rot, hatte einen süßlichen Geschmack und war herrlich erfrischend. Vinja bedauerte, dass sie nicht gleich zwei gekauft hatte, aber ihr Vater war geizig und schon jetzt war sie besorgt, dass die Münzen nicht mehr zum Bezahlen reichen würden.

Ich habe ja noch die Gutscheine, dachte Vinja und bei dem Gedanken musste sie lachen.

Nach einer Weile weitete sich die Straße zu einem Platz, in dessen Mitte ein Brunnen stand. Die Festung des Königs und der Berg, auf dem sie stand und der sich genau im Zentrum der Stadt befand, waren schon sehr nahe. Beide waren größer, als Vinja gedacht hatte und sie spürte die Verlockung, einfach weiter geradeaus zu laufen, um sie sich aus der Nähe anzuschauen.

Sie beschloss, eine kleine Pause zu machen und kurz am Brunnen zu trinken, bevor sie weiterging.

Es war heiß und sie war nicht die einzige, die sich am Brunnen erfrischen wollte. Mithilfe einer Pumpe wurde Wasser aus einem Hahn gepumpt. Vinja betrachtete ihn fasziniert. Er war aus glatt geschliffenem Stein, voller Verzierungen mit Fabelwesen aller Art. Sie sah Drachen, Zwerge, Monster und Hexen. Gerade dachte sie darüber nach, ob die Figuren, so wie sie angeordnet waren, eine Geschichte erzählten, als jemand sie ansprach. Es war ein Mann mit zotteligem Haar und rauem Gesicht, der den Hebel der Pumpe in der Hand hielt.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWhere stories live. Discover now