IV - Vinja (3/6)

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Es war der Kylwor, jener Fluss, den Belfonso ihr auf der Karte gezeigt hatte, an dem sie ihre Flucht beendete. Er war viel breiter, als Vinja gedacht hatte. Ein Schiff, schwer beladen mit Kisten und Paketen, fuhr träge Richtung Osten. Vinja selbst stand auf einer flachen Wiese, die das Ufer des Flusses säumte. Trotz des von Wolken bedeckten Himmels saßen hie und da Leute, die dem Schiff nachschauten, oder auf einer Decke saßen und etwas aßen. Ein paar Kinder spielten Fangen und machten viel Geschrei.

Es dauerte eine Weile, bis Vinja wieder zu Atem gekommen war. Als ihr Herzschlag sich beruhigte, ging sie über die Wiese bis an den Fluss. Das Wasser war dunkel und trübe und seine Strömung schwach. Vinja hatte großen Durst und hätte gerne etwas getrunken, doch das Wasser sah wenig einladend aus. Trotzdem zog sie ihre Schuhe aus und hielt ihre brennenden Füße ins Wasser. Es war nicht so kalt, wie sie gehofft hatte, aber dennoch brachte es ihr ein wenig Erfrischung.

Ihr Atem zitterte noch immer. Die Gedanken an Swyn und das dunkle Zimmer kamen zurück. Doch es war nicht nur der Ekel vor Swyn, der sie beschäftigte. Es war auch der Ekel vor ihr selbst, dass sie nur dagesessen hatte und sich nicht wirklich hatte wehren können. Wut verdrängte ihre anderen Gefühle, doch mit der Wut fühlte sie sich gleichzeitig hilflos und schwach.

Ich wünschte, ich könnte es ihm heimzahlen, dachte Vinja und auf diesen Gedanken folgte die Sorge, was ihre Eltern dazu sagen würden, wenn sie es erfuhren.

Die Situation war erschreckend real und unwirklich zugleich gewesen und noch immer konnte Vinja es nicht fassen, wie sie ihr entkommen war. Was war das für ein Knall gewesen? Vinja konnte sich keinen Reim darauf machen, was es gewesen war.

Sie ließ die Füße im Gras trocknen, dann zog sie sich ihre Schuhe wieder an und holte die Karte hervor. Sie wusste nicht, wo sie war, doch der Palast des Königs auf dem Berg im Zentrum der Stadt und der Fluss gaben ihr eine grobe Orientierung.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Hauptstraße wieder erreichte und der Tag neigte sich dem Ende zu, als sie im Lichterviertel ankam. Vinja wurde nervös und sie verlangsamte ihre Schritte.

Hoffentlich wissen meine Eltern nichts, dachte sie immer wieder, hoffentlich hat dieser Swyn mit niemandem darüber gesprochen.

Doch als sie die Tür in ihren Laden öffnete und den Empfangsraum der Wäscherei betrat, wurde ihr klar, dass ihre Hoffnung vergebens gewesen war.

Rigund saß hinter der Theke und Vinja brauchte nicht erst ein Wort mit ihr zu wechseln, um zu erkennen, dass es um ihre Laune nicht gut bestellt war. Kaum hatte sie den Laden betreten, da sprang Rigund auf.

»Belfonso!«, rief sie laut und wütend, »sie ist da!«

Im hinteren Teil des Ladens klapperte es, dann erschien Belfonso im Durchgang.

»Vinja!«, rief er laut und kam auf sie zugeeilt, gleichzeitig warf er die Arme in die Luft. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«

Vinja machte einen Schritt zurück. Ausgerechnet diese Frage hatte sie nicht erwartet.

»Wobei gedacht?«, fragte sie. Es fühlte sich an, als würde sich ihr Magen zusammenschnüren.

»Stell dich nicht dumm!«, fuhr Rigund sie von ihrem Platz hinter der Theke an, »Die Morgells waren hier, schon vor einer ganzen Weile und haben uns alles erzählt!«

»Was erzählt?«, fragte Vinja. In ihren Ohren begann es zu rauschen.

»Dass du dich dem Morgelljungen an den Hals geworfen hast, dass du dich ihm angeboten hast wie ein Flittchen!«, rief Rigund. Ihre Stimme sprühte vor Zorn. »Was glaubst du, wie peinlich das für uns gewesen ist?«

Ein Schleier trat vor Vinjas Augen und es brauchte einen Augenblick, bis sie verstand, dass es Tränen waren. Das konnte einfach nicht wahr sein.

»Das stimmt nicht!«, wollte sie sagen, doch Belfonso war schneller als sie.

»Vinja, Vinja!«, rief er und begann im Zimmer auf- und abzulaufen, »ich hätte es wissen müssen, in gewisser Weise ist es meine Schuld!«

»Nimm sie nicht noch in Schutz!«, rief Rigund wütend.

»Aber es ist so!«, antwortete Belfonso aufgebracht, »Ich habe sie zu sehr bestätigt. Alle Menschen mögen sie, das ist ihr zu Kopf gestiegen. Sie hat gedacht, der Morgelljunge würde sie auch so mögen und hat vergessen, wie die Standesunterschiede sind.« Er blieb stehen und schaute zu Vinja. »So ist es doch gewesen, oder nicht?«

Vinja schüttelte den Kopf. Die Worte ihrer Eltern trafen sie wie Schläge ins Gesicht. Das konnte einfach nicht wahr sein. Swyn hatte die ganze Geschichte umgedreht und was noch schlimmer war, ihre Eltern glaubten sie einfach.

»So war es nicht!«, presste sie hervor.

»Es ist egal, wie es genau war, Vinja, ich habe dir doch gesagt, dass es unser wichtigster Kunde ist, du hättest vorsichtiger sein müssen.« Er deutete auf das hintere Zimmer. »Sie haben ihre Diener einen Teppich mitbringen lassen, auf welchem du Wein verschüttet haben sollst, stimmt denn das zumindest?«

»Ja, aber ...«, begann Vinja gequält. Tränen liefen ihr über das Gesicht.

»Da!«, rief Rigund böse, »Da hörst du es!«

Belfonso schüttelte unglücklich den Kopf.

»Diesen Teppich zu reinigen, wird ein schweres Stück Arbeit werden, Vinja. Und wir verdienen keinen Schilling daran.«

»Ich helfe dabei!« Tränen liefen Vinja über das Gesicht.

»Besser nicht«, antwortete Belfonso geknickt, »hier darf nichts schiefgehen, sonst können wir hier wieder einpacken.«

Er warf Vinja noch einen letzten Blick zu, von dem Vinja nicht sagen konnte, ob er mitleidig oder wütend war, dann verschwand er wieder im Hinterzimmer. Vinja wandte sich zu Rigund.

»Es tut mir leid!«, sagte sie, doch Rigund schnaubte nur.

»Geh besser einfach nach oben und sieh zu, dass du dich dort nützlich machen kannst. Sonst bist du ja anscheinend für nichts zu gebrauchen!«

Vinja nickte, drehte sich um und stieg die Treppe in ihren Wohnbereich hinauf.

In den darauf folgenden Tagen sprachen Belfonso und Rigund nur wenig mit Vinja, ein schlimmer Zustand, schlimmer noch, als wenn sie sie angeschrien hätten. Wenn sie mit ihr sprachen, dann waren ihre Sätze zurückhaltend und distanziert und Vinja fühlte sich einmal mehr allein. Nach und nach gaben sie ihr wieder kleinere Aufträge außer Haus, etwa um auf dem nahe gelegenen Handwerksmarkt einzukaufen. Vinja erledigte die Einkäufe mit größter Zurückhaltung und gab sich Mühe, mit niemandem ins Gespräch zu kommen.

Einmal hatte sie noch versucht, ihren Eltern zu erklären, wie es tatsächlich bei den Morgells gewesen war, doch ihre Eltern wollten ihr nicht zuhören und Vinja versuchte es kein zweites Mal. Sie versuchte, die Begegnung mit Swyn zu vergessen, doch es gelang ihr nur mäßig und manchmal musste sie plötzlich daran denken. In solchen Momenten blieb sie stehen, wo sie war und wartete, bis ihr Herzschlag sich wieder beruhigte. Die Tage waren für sie lang und deprimierend und sie war froh, als endlich Frydag war.

Als sie morgens erwachte, hatte sie es fast vergessen und erst als sie Rigund und Belfonso beim Frühstück traf, welches sie entgegen der allgemeinen Eile ganz in Ruhe zu sich nahmen, fiel ihr ein, dass einer der arbeitsfreien Tage gekommen war. Eine Zeile aus einem alten Kinderreim, den sie früher mit ihren Freunden gesungen hatte, wenn sie sich am freien Tag aufgemacht hatten, um zusammen auf den Feldern zu spielen, kam ihr in den Sinn.

»Der Frydag kommt und Groß und Klein lässt alles stehen und liegen. Der Frydag kommt, der Frydag kommt, lasst alles stehen und liegen.«

Was aber sollte sie mit ihrem freien Tag anfangen? Ihre Eltern waren immer noch sehr reserviert ihr gegenüber und sie kannte fast niemanden in der Stadt. Erst recht hatte sie keine Ahnung, wo man in der Stadt hingehen konnte, um seinen freien Tag zu genießen, noch weniger, ob sich in einer großen Stadt wie Ijaria überhaupt alle Leute freinahmen.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang