V - Elno (2/4)

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Seitdem hatte Elno nicht mehr mit ihr darüber gesprochen, doch ihr Versprechen vergaß er nicht. Wenn er an sein Zuhause denken musste, an Bolg und an Ana, dann wiederholte er es in seinem Kopf. Er würde Nela abholen und sie würde mit ihm in Athea leben können. Vielleicht fand sich sogar ein Drache, den sie würde reiten können.

Bevor er sie nach Athea holen konnte, musste er stärker werden. Er fürchtete, Bolg würde ihn daran hindern wollen, Nela mitzunehmen. Er dachte an Bolgs starke und brutale Arme und dann war er froh, dass er in Athea war und nicht in ihrer alten Hütte.

Der Herbst kam näher. Elno merkte es daran, dass die Nächte in ihrem großen Schlafsaal kälter wurden. Elno hatte herausgefunden, dass es drei oder sogar vier solcher Schlafsäle gab. In ihrem schliefen um die 40 Kinder.

Auch wenn sie aufgehört hatten, Elno als etwas Absonderliches zu behandeln, so hatte er doch wenig mit den anderen zu tun. Eines der Betten neben ihm war frei und im anderen schlief Piules, ein kränklicher Junge mit pickeligem Gesicht. Elno hatte gehört, wie andere Kinder ihn hinter seinem Rücken Pocke oder Pickels nannten. Piules hatte wenig Freunde und schien mit vielen Dingen überfordert zu sein. Dazu kam, dass er häufig stotterte. Elno sah Piules oft in seiner Nähe. Er schien noch nicht viel weiter zu sein, als Elno. Piules hatte Elno ein paar Mal angesprochen und ihm irgendwelche Fragen gestellt. Elno hatte den Eindruck, Piules glaubte, Elno könne ihm weiterhelfen, auch wenn Elno ihm bisher keine einzige Frage hatte beantworten können. Meistens war es etwas zur Geschichte der Drachenreiter oder zu Namen von Ländern, die Elno nicht einmal kannte. Auch Piules wurde oft von Meisterin Gimla befragt. Selbst wenn er eine Antwort wusste, verhaspelte er sich so stark, dass Meisterin Gimla sich unzufrieden von ihm abwandte.

»M...M...Morgen k...komme bestimmt ich wieder dran«, sagte er eines Abends. »A...Aber ich h...habe mindestens zwei Städte schon wieder vergessen, w...weißt du noch, wie sie alle heißen?«

Draußen war es bereits dunkel geworden. Meisterin Tenolia schien der Meinung zu sein, dass nun, da die Tage kürzer wurden, die Zeit des Trainings doppelt intensiv genutzt werden sollte. Das Training hatte die meisten so erschöpft, dass sie nach dem Essen direkt ins Bett gefallen waren.

Elno hatte heute zum ersten Mal mit Roderic ›die Stöcke gekreuzt‹, wie Tenolia es genannt hatte. Er hatte Roderic kein einziges Mal wirklich getroffen, aber seine Arme taten ihm weh, denn seit neuestem trainierte er sowohl links als auch rechts. Davon war er so erschöpft, dass er sich bisher noch keine Gedanken über den morgigen Tag gemacht hatte. Wie immer hatte er nicht viel behalten.

»Nein«, antwortete er daher. Piules seufzte hörbar.

»V... Verflixt!«, sagte er laut, worauf es aus einem anderen Bett ein unzufriedenes Zischen gab.

»I....Ich glaube eine Stadt hieß Smurns«, sagte Piules nach einer Weile leise. »D...dann fehlt nur noch eine!«

Elno versuchte, sich den Namen der Stadt einzuprägen, damit er zumindest etwas wusste, falls er morgen gefragt werden sollte, auch wenn er sich nicht sicher war, ob Piules den Namen richtig erinnerte.

Als er am nächsten Morgen erwachte, hatte er den Namen schon wieder vergessen, zumindest fiel er ihm nicht ein, nachdem er sich aufgesetzt und begonnen hatte, sich anzukleiden. Er überlegte, ob er Piules noch einmal danach fragen sollte, doch entschied sich dagegen, denn Piules war sehr bleich und wirkte noch nervöser als sonst.

Elno hatte schlimmen Muskelkater vom Vortag und er war fast froh, dass es heute nur den Unterricht im Kartenraum geben würde.

Im Kartenraum waren Unmengen von Karten gelagert. Sie füllten Regale, die bis an die Decke reichten oder standen in großen Rollen in allen Ecken und Winkeln des Zimmers. In der Mitte standen eine Reihe von Stühlen und Tischen, auf denen sie zwischendurch Karten ausrollen und lesen mussten. An einer Wand war eine Karte aufgehängt, die von einer Zimmerseite bis zur anderen reichte. Es war die größte Karte, die Elno in seinem Leben gesehen hatte und sie zeigte etwas, das aussah wie eine große Insel.

»Das ist das freie Reich«, hatte Meisterin Gimla Elno erklärt, als sie an seinem ersten Tag bei ihr gemerkt hatte, dass er so gut wie gar nichts wusste. Mit einem langen Zeigestock hatte sie auf eine Stelle in der oberen Hälfte gezeigt. »Hier leben wir. Und hier ist die Hauptstadt des Reiches, Ijaria ...«

Ab da hatte Elno alles vergessen. Der Name Ijaria aber war ihm im Gedächtnis geblieben und mit der Zeit hatte er auch entziffern können, dass der Name groß in der Mitte der Karte stand. Den Rest verstand er nicht und er fand auch die Ausführungen von Meisterin Gimla zum Lesen von Karten wenig hilfreich.

Nach dem Frühstück machte er sich zusammen mit Piules auf den Weg. Piules hatte kaum etwas gegessen und wiederholte im Flüsterton immer wieder verschiedene Namen. Nun wurde auch Elno nervös und er versuchte, aus Piules Geflüster schlau zu werden.

Am Kartenraum angekommen, fanden sie die Tür verschlossen. Davor standen die anderen Schüler. Sie waren fast alle jünger als Elno, aber außer mit Piules hatte Elno mit niemandem mehr zu tun, auch wenn sie ihn aufgrund seines höheren Alters etwas respektvoller behandelten als die meisten anderen.

Nach einer Weile wurde die Tür geöffnet und Meisterin Gimla kam zum Vorschein. Sie stützte sich auf ihren kurzen Gehstock.

»Herein!«, sagte sie barsch.

Im Kartenraum wartete eine Überraschung auf sie. Vor der großen Karte stand eine Reihe Schüler, die nicht zu ihrer Gruppe gehörten. Zu seiner Freude sah Elno auch Finiel. Als sie ihn sah, winkte sie ihm kurz zu und grinste. Elno winkte zurück und setzte sich. Piules, der neben ihm saß, flüsterte ihm zu: »W...w...was hat das zu bebedeuten?«

Aber Elno wusste es nicht und zuckte nur mit den Schultern.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon